Le sexe des étoiles (Das Geschlecht der Sterne) von Paule Baillargon. Kanada, 1994. Marianne Coquelicot Mercier, Denis Mercier, Tobie Pelletier

   Camille ist zwölfdreiviertel und ist besessen von den Sternen. Das war schon immer so, doch in jüngster Zeit hat sie noch einen zusätzlichen Vorzug an ihnen entdeckt: Sie haben kein Geschlecht. Das wiegt umso schwerer, da alles Geschlechtliche, was sich sonst so in ihrer Umgebung abspielt, unverständlich bis abstoßend auf sie wirkt. Ihre Eltern sind seit langem geschieden, doch mit der Mutter und deren neuem Freund, ausgerechnet ihrem Schulpsychologen, kommt sie nicht klar. Ihrem Vater schreibt sie viele Briefe nach New York, die sie niemals abschickt, weil sie nicht weiß, wo er lebt und er nichts von sich hören lässt. Als er eines Tages dann doch vor der Tür steht, ist die Konfusion groß, denn aus Pierre dem Mann ist mittlerweile per Operation Marie-Pierre die Frau geworden. Camille gerät nicht nur zwischen die Fronten ihrer zerstrittenen Eltern, sondern auch noch in tiefe Gefühlsverwirrung. Die wird nicht gerade verringert durch den Typen von ihrer Schule, der sich beharrlich an sie ranschmeißt, eigentlich aber ein Stricher ist, der obendrein kokst und in ziemlich komischer Gesellschaft rumhängt. Camille sieht ein, dass sie sich wohl oder übel dem sogenannten wirklichen Leben stellen muss.

  Dies führt Paule Baillargon, die man noch als Schauspielerin aus Patricia Rozémas sehr schönem „I’ve heard the mermaids singing“ kennt, auf sehr gefühlvolle und eindringliche Weise vor in einem jener kanadischen Großstadtfilme, die durch zarten Humor und sorgfältige Personenbeschreibungen überzeugen und die noch mehr Wert auf Menschen und Situationen denn auf Chique und den schnellen Neonthrill legen, wie es tendenziell in Denys Arcands letztem Machwerk zu beobachten war. Hier geht es um ein junges, langsam pubertierendes Mädchen, das sich am liebsten aus all den lästigen, kompliziertenier H

 

 und unschönen Dingen des Erwachsenwerdens raushalten und nur in fernen Galaxien leben würde. Allein die Sterne sind rein, übersichtlich und faszinierend, während alles Irdische höchst dubios oder schmutzig aussieht. Die Geschlechtsumwandlung ihres Vaters nimmt sie zunächst gar nicht richtig in sich auf, und als sie dann von dem besagten Schulfreund mit Gewalt auf die Tatsachen gestoßen wird – er nimmt sie in eine Transvestitenbar mit -, wehrt sie sich noch immer gegen eine wirkliche Auseinandersetzung damit. Vielmehr versucht sie, aus Marie-Pierre wieder einen Mann zu machen, den Vater, den sie einst kannte und den sie in dessen Abwesenheit zum größten Frust ihrer Mutter vergötterte. Marie-Pierre, einerseits natürlich tief hingezogen zu ihrer Tochter, muss ihr schmerzlich klarmachen, dass Camilles Vater nicht mehr existiert, dass die Erinnerung an die schönen alten Zeiten wertlos geworden ist, und dass sie für Camille in New York, denn da will das Mädchen auch gern hin, wahrscheinlich wenig tun kann. Marie-Pierres Aussicht besteht darin, einen reichen Mann zu angeln und von ihm beschützt zu werden, was bedeutet, dass sie ihre einstigen beruflichen Ambitionen hat fahren lassen. Am Schluss macht sie aber doch einen Versuch, Camille für sich zu gewinnen, nimmt wieder das Aussehen eines Mannes an und entwirft schöne Illusionen vom gemeinsamen Leben in New York. Zu spät: Camille hat sich für den Jungen entschieden, für die Zukunft, hat Marie-Pierre als solche akzeptiert und sich von der Vergangenheit gelöst. Ihre erste Menstruation zeigt darüber hinaus an, dass sie sich nun entschlossener zu ihrer eigenen Sexualität wird bekennen müssen. Der Weg dahin ist allerdings mit großen Schwierigkeiten und Kämpfen verbunden. Lange versucht sie, die Außenwelt zu verdrängen, sich in einer eigenen, verkapselten Welt zusammen mit ihrem Vater zu verschließen, bis es dem Jungen gelingt, nach vielen Rückschlägen und mit ebenso viel Geduld, sie langsam aber sicher für die Realität zu öffnen. Der Film konzentriert sich dabei nicht nur auf Camilles Situation, auch Marie-Pierre kommt zu Wort, im Gespräch mit einstigen Kollegen, mit ihrer hasserfüllten Exfrau und mit ihrer Tochter. Ein paar erste Flirts in Kneipen zeigen dabei, wie schwer sie es haben wird, auf einmal als Frau mit dem Sexualverhalten der Männer umgehen zu können, denn der erste, den sie abschleppt, geht gleich denkbar roh und unsensibel zur Sache. Ihr abschließendes Manöver, Camille doch noch eine gemeinsame Zukunft zu bieten, könnte darauf hindeuten, dass sie sich ihrer neuen Identität noch nicht ganz sicher ist, könnte aber ebenso gut reine Taktik gewesen sein, der Versuch, die Tochter behutsam mit der Veränderung vertraut zu machen. Die beiden Hauptdarsteller spielen das hervorragende und werden gestützt von einer sensiblen, zurückhaltenden Regie, die Gefühle nicht forciert, sondern sie natürlich entwickelt, und die kein großes Pathos benötigt, um zu rühren, zu bewegen. Ein eher stiller, intensiver kleiner Film, der gerade deshalb gut ist, weil er nichts groß rausposaunen will, und der zeigt, dass die Kanadier definitiv ihren eigenen Weg gehen können, wenn sie nur wollen. (17.5.)