God sobaki (Das Jahr des Hundes) von Semjon Aranowitsch. Russland/Frankreich, 1994. Igor Skiljar, Inna Tschurikowa, Alexander Feklistow, Michail Dorofejew
Wie ich bestimmt schon mal sagte, teilen wirklich gute Filme immer auch etwas über das Land mit, in dem sie gemacht wurden, es sei denn, es handelt sich um reine Kunst- oder Literaturfilme. Die Franzosen zum Beispiel sind auf letztgenanntem Gebiet unschlagbar, aber in Filmen von Rivette oder Rohmer bekommt man eigentlich nur noch sehr vage Eindrücke vom heutigen Frankreich. Die Engländer haben sich ihre Tradition klassenbewusster, sozialkritischer Filme wenigstens noch zu einem teil erhalten, wenn auch viele gute Leute nach Hollywood abgefallen sind. Die Russen hingegen, wie viele andere ehemalige Ostblockländer auch, verbinden die beiden unterschiedlichen Linien sehr oft auf eine zumindest künstlerisch sehr eindrucksvolle Art und Weise. Was die Inhalte und Aussagen betrifft, ertappe ich mich oft dabei, nach einem ihrer Filme ein gewisses Unverständnis zu verspüren, wahrscheinlich aus meiner gründlichen Unkenntnis russischer Geschichte, Kultur, Kunst und Gesellschaft resultierend. Diese Fremdartigkeit, diese düstere Sperrigkeit zeichnet sehr viele neuere russische Filme aus, grüblerisch wie einst Tarkowski, aber inhaltlich weitaus radikaler, entschiedener. „Freiheit ist ein Paradies“, „Briefe eines Toten“ oder „Luna Park“, um nur einige ganz wenige zu nennen, vermitteln ein sehr finsteres, trauriges und verzweifelte Bild russischer Gegenwart, das Bild eines Landes, dessen politische Auflösung ihren Niederschlag auch im menschlich-sozialen Bereich gefunden hat. Armut, Orientierungslosigkeit, Entwurzelung, organisatorisches Chaos, Kriminalität und das unglaubliche Ausmaß der nun schrittweise aufgedeckten Staatsverbrechen an Mensch und Umwelt fügen sich zusammen zu einer Apokalypse, der Aranowitsch in seinem neuesten Film bemerkenswert eindringlich nachvollzogen hat.
Sergej ist dreißig, hat davon siebzehn Jahre im Knast gelebt. Vera ist eine alternde, schüchtern-naive Frau in der Stadt. Er klaut ihre Brieftasche, schmeißt sich an sie heran, sie reagiert bestürzt und geschmeichelt, verlegen durch den Rüpel, der sich nicht in der Oper benehmen kann, aber auch angezogen durch den Mann, denn sie hatte lange keinen mehr. Dann tötet Sergej einen Mann, der ihn provozierte, schnappt sich Vera, und per Zug geht es ab in die Wildnis. Bis dahin hatte man bereits einen Eindruck vom leben in den Großstädten erhalten: Schäbige Wohnungen, Leute auf der Suche nach Geld und Vergnügungen, mühsam aufrecht erhaltene Strukturen bröckeln mehr und mehr ab, es scheint kaum noch eine verbindliche Ordnung zu geben, und latente Gewalt beherrscht das Miteinander. Die Natur, in der Sergej und die überrumpelte Vera eine Zuflucht suchen, ist von berückender Schönheit, hinter der sich ein Alptraum verbirgt: Sie landen in einem kleinen, verlassenen Dorf. Vollständig eingerichtete Häuser und Läden mitsamt zahlreicher Lebensmittel, eine Geisterstadt. Ein Flugblatt klärt Sergej über den Grund des plötzlichen Auszugs auf: Atomare Strahlung, entweder ein Waffentest der Armee, oder ein GAU im nächsten Kernkraftwerk. Obwohl die beiden wissen, dass sie tödlich verstrahlt werden, bleiben sie, und Vera beginn Sergej zu lieben. Drei Männer kommen regelmäßig an, plündern Wertgegenstände zusammen, um sie dann zu verhökern, auch verseuchte Lebensmittel. Sergej kann sie nach einem Kampf einsperren, reagiert seine Aggressionen aus siebzehn Jahren Haft und seine Empörung über den infamen und für die Käufer fatalen Handel an ihnen ab. Einer der Männer fragt ihn, was er denn machen solle, ohne Arbeit und ohne Geld. Frau und Kinder verhungern lassen? Sergej lässt sie schließlich laufen, aber später kommen sie mit bewaffneten Männern zurück und töten ihn.
Eine Liebesgeschichte in der atomaren Endzeit, eine absurde Idylle, eine schwarze Komödie, ein harter Gegenwartsfilm, alles und noch mehr steckt in diesen zweieinviertel Stunden, die um vieles schneller vorübergehen als in anderen Fällen. Nach dem auf im verbalen Tonfall harten, kargen, deprimierenden Auftakt in der Stadt findet die Erzählung einen optisch berauschenden, ruhigen Rhythmus, sobald die beiden aufs Land hinaus fahren. Das leere Dorf ist geisterhaft, bedrohlich, ebenso wie die drei Plünderer in ihren Plastikumhängen und mit ihren Atemmasken. Russland nach dem Super-GAU, aber auch eine ganz alltägliche Sache in einem so großen und unübersichtlichen Land. Sergejs Leben hat es ihm unmöglich gemacht, sich jemals zu arrangieren, einzufügen in eine Gesellschaft, sie ihn bislang stets als Feind gezeichnet hatte. Für ihn sind die politischen Änderungen noch nicht spürbar und auch nicht relevant, denn die alten Feinde und Sprüche sind noch da, werden noch gesagt und können noch gelesen werden. Die große Armut hat viele scheinbar in die Gesetzlosigkeit vertrieben, hat moralische Bedenken gegenstandslos gemacht, und also wird alles verkauft, was irgendwie Geld bringt, egal ob es tödlich verstrahlt ist oder nicht. Alle müssen kämpfen, notfalls gegen alle, nur ums eigene Überleben. Auf den Bahnhöfen sind Massen von Menschen unterwegs, und die Züge sind überfüllt, man macht sich auf den Weg dorthin, wo es vielleicht besser ist, wo es Arbeit und Essen gibt. Vera ihrerseits hat sich gänzlich gegen all dies abgeschottet, wirkt hilflos, auf liebenswürdige Weise altmodisch und geradezu grotesk naiv. Aber in ihrer Einsamkeit hat auch sie wenig mehr zu verlieren, als ein schäbiges Zimmer im Wohnheim und eine eher trügerische Sicherheit. Ein abendliches Gebet macht dies deutlich: Sie würde ihr Leben dafür geben, dass aus Sergej ein besserer Mensch wird, so sehr hat sie seien Wurzellosigkeit getroffen, seine erschreckende Aggression, die oft in pure Verzweiflung mündet. Filme wie dieser können nur aus Ländern kommen, die eben solche Auflösungserfahrungen gemacht haben. Wenn man an „Le chêne“ aus Rumänien denkt, weiß man wohl, was damit gemeint ist. Hier fehlen Sicherheit, Ordnung und Gerechtigkeit nach unseren Maßstäben in einer Weise, die wir uns hier im ach so sicheren Westen nicht vorzustellen vermögen, und wahrscheinlich ist auch dies genau der Grund, weshalb sich solche Filme letztlich niemals ganz mitteilen, nicht vollkommen verstanden werden können. Aber es bleiben Eindrücke, Gedanken, Assoziationen und einige Erschütterungen und die Gewissheit, dass auch am Rande des Abgrunds Meisterwerke entstehen können und nicht nur im kultivierten Wohlstand. (10.4.)