J’ai pas sommeil (Ich kann nicht schlafen) von Claire Denis. Frankreich, 1993. Katerina Golubeva, Alex Descas, Richard Courcet, Béatrice Dalle, Vincent Dupont

   Die Zahl der Großstadtepisodenfilme wird immer größer. Entweder die Autoren haben nicht mehr den Atem, wirklich zwei Stunden lang eine einzige Geschichte zu erzählen, oder sie trauen den Zuschauern nicht mehr den Atem zu, zwei Stunden lang eine einzige Geschichte zu rezipieren, oder aber das moderne Großstadtleben ist eben so, und man kommt ihm mit dieser Methode am besten bei. Ineinander verschränkte Schicksale und Begegnungen, mal als flüchtig-oberflächlich designter Erotikreigen, mal als mystisch-irreal stilisiertes Märchen, oder aber so, wie Claire Denis es macht, und ihre Art gefällt mir dabei bislang eigentlich am besten.

  Daiga kommt aus Wilna nach Paris, um zu leben und zu arbeiten. Sie steigt bei der Freundin ihrer geizigen Tante im Hotel ab. Dort nehmen sich auch Camille und sein Freund ab und zu ein Zimmer. Die beiden rauben alte Damen aus und töten sie dann, bis auf die letzte, was ihnen zum Verhängnis wird. Camilles Bruder Théo fühlt sich in Paris nicht wohl und will zurück in seine Heimat nach Martinique, was aber wiederum auf den Widerstand von Mona, der Mutter seines Kindes, stößt. Camille und sein Komplize werden gefasst, Daiga findet die Beute und rafft das Geld an sich, und ob Théo und Mona nun gemeinsam die Stadt verlassen werden, weiß man nicht. Am Ende sind jedenfalls nicht sehr viel weniger Fragen offen als zu Beginn.

 

   Claire Denis ist nicht am glatten Yuppieschick à la Arcand interessiert, auch nicht an neonfarbenen Halbwelten à la Egoyan, sie zeigt die Menschen in ihrem jeweiligen Milieu, zeigt Paris als das, was es ist, eine Verschmelzung unendlich vieler Kulturen: Die Russen haben ihre Enklaven, die Creolen aus der Karibik, die Schwulen und Transvestiten undsoweiter. Théo spielt sehnsüchtig-schmelzende Tanzmusik aus der Heimat, Daiga amüsiert sich über ihre Landsleute und ihre skurrile Vetternwirtschaft, Camille zieht in Seidenstrümpfen und Schminke eine flotte Show für seine Jungs in der nächtlichen Bar ab. Sie alle treiben durch die Stadt, vor allem nachts, begegnen einander flüchtig, ohne Notiz zu nehmen, ein jeder auf seinem eigenen Weg. Daraus wird hier allerdings nur selten eines jener gewollt arrangierten Großstadtballetts, die andere Regisseure manchmal ja auch mit einem gewissen Reiz aufführen, sondern eine über weite Strecken sehr realistisch anmutende Darstellung, die sich zumeist eher sperrig und introvertiert gibt, statt sich wie gewohnt anzubiedern, auf die Zuschauer zuzugehen. Der Stil ist durchaus ästhetisch, aber er bleibt zurückhaltend, eher nüchtern und kühl, wobei Pathos oder Sentimentalität vollkommen fehlen. Das hängt auch damit zusammen, dass Denis im Großen und Ganzen eher die Schweiger präsentiert: Daiga spricht schon aufgrund ihrer Sprachprobleme wenig, und wenn, dann äußert sie sich ruppig und angriffslustig, erteilt den dummen Typen, die sie veralbern wollen, eine deftige verbale Abfuhr. Théo ist noch düsterer, ein ernster Mann, den man nie lachen sieht, der sich mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser hält, aber seine Würde wahrt, sein eigener Herr bleibt. Mit Camille verbinden ihn wenig geschwisterliche Gefühle, die beiden sind sich gründlich fremd, gehen sich aus dem Weg, auch wenn sie ein gewisses Band, ein dünnes allerdings, zu verbinden scheint. Denis zeigt hier Leute jenseits glamourös-bohèmehafter Existenz, ihre Personen leben nicht in schick gestylten Penthäusern, tragen kein Handy mit sich rum und verkehren auch nicht in den angesagten Kneipen unter lauter schönen Menschen. Alles an diesem Film entzieht sich dem schnellen Zugriff, dem problemlosen Konsum, dafür haken sich die Bilder fest, erinnert man sich an die sehr markante Musik, die ihrerseits die kulturelle Pluralität dieser Stadt illustriert, wird man die sehr guten Schauspieler und ihre ausdrucksvollen Gesichter nicht so schnell vergessen. Wenn ich jetzt so an das vielfach banale und sehr oberflächliche Yuppiegtue denke, was in den letzten Jahren aus Amiland und leider neuerdings auch aus Kanada zu uns rüberschwappt, dann fallen die Kontraste zu einem wirklich persönlichen und individuellen Film wie diesem hier schon stark auf. Kein flotter Humor, keine coolen Sprüche und vor allem keine wohlfeilen Lösungen, dafür aber wird „J‘ai pas sommeil“ im Gegensatz zu all diesen anderen Machwerken nicht nach spätestens zwei Wochen wieder aus meinem Kinogedächtnis verschwunden sein, sondern sich dort noch eine Ecke länger halten. Nach „Chocolat“ ist dies wohl der zweite wirklich herausragende Film von Claire Denis. (17.7.)