Lamerica (#) von Gianni Amelio. Italien/Frankreich, 1994. Enrico Lo Verso, Carmelo di Mazzarelli, Michele Placido, Piro Mikkani, Sefer Pema, Marian Pietrj
Über Albanien weiß man eigentlich nicht viel. Liegt irgendwo an der Adria auf dem Balkan, einreisen war bislang fast unmöglich, höchstens dass Kara Ben Nemsi mal durchgekommen ist, und auch die Fußballnationalmannschaft hat keine Bäume ausreißen können. Inmitten all der Katastrophen der letzten Jahre sind die Bilder der hoffnungslos überfüllten Flüchtlingsschiffe im Hafen von Bari und die Erinnerung an die harte Position der italienischen Regierung kaum noch präsent, ein krisengeschütteltes Ostblockland unter vielen und überdies seit jeher ein seit jeher ein Außenseiter. Das Lexikon gibt Auskunft über die Stationen der jüngsten Geschichte: Besetzung durch die italienischen Faschisten, Errichtung einer Scheinmonarchie, Besetzung durch die Deutschen und dann, nach 1944, kommunistische Diktatur, die sich schrittweise ihrerseits sowohl von Moskau als auch von Peking gelöst und vollkommen ihren eigenen Laden aufgemacht hat. Seit einigen Jahren nun befindet sich das Land im Umbruch, sprich im totalen Chaos, auf dem Irrweg zur Demokratie unter der Last von fünfzig Jahren totalitärer Herrschaft, die noch fest verankert ist.
Gianni Amelios beeindruckendes Werk bringt Albanien nun zumindest auf die filmische Landkarte: Italienische Geschäftemacher reisen nach Tirana, um dort eine Scheinfirma mit immensen Steuervorteilen hochzuziehen. Dazu braucht man einen Strohmann als Direktor, und den findet man alsbald in einem alten, scheinbar geistig verwirrten Herrn, der sich aber leider wenig kooperativ verhält und einfach verschwindet. So muss sich der junge Gino an seine Fersen heften, und herauskommt eine Reise quer durch das Land, die ihn jäh mit unbekannten Verhältnissen konfrontiert, ihn der Willkür der Behörden ausliefert und ihn am Schluss auf eben einem jener Flüchtlingsschiffe landen lässt, ohne Pass und mit recht ungewisser Zukunft an der Seite des alten Spiro.
Der heißt in Wahrheit Michele, ist Sizilianer und wurde vor fast fünfzig Jahren als italienischer Faschist von den Kommunisten ins Lager gesteckt. Nun ist er wieder frei, gezeichnet von dem unvorstellbaren Elend und geistig noch immer in den ersten Kriegsjahren lebend. Abschied nehmend von der jungen Frau und dem gerade noch ungeborenen Kind. Ein Stück italienischer Geschichte schwingt auch mit, und Amelio nimmt sich die eigenen Leute hart zur Brust: Arrogante Kolonialisten sind sie, die Männer der dubiosen Wirtschaft, die die albanischen Hungerleider wie Menschen zweiter Klasse behandeln, ihrem Leid den Rücken zukehren und nur an raschem Profit interessiert sind. Überall auf der Welt gleichen sich halt die Dinger: Sobald ein Land die Pforten öffnet, strömen als erstes die Spekulanten rein und schauen, wo sie die rasche Mark bzw. Lira machen können. Auch auf der unfreiwilligen Odyssee durch das Land der Skipetaren verlässt sich Gino zunächst ganz auf seine Statussymbole, die ihn als Mitglied der westlichen Zivilisation ausweisen: Die Klamotten, das Geld, der flotte Geländewagen und die coole Sonnenbrille. Eins nach dem anderen kommt ihm im Lauf der zeit abhanden, bis er plötzlich auch äußerlich einer von ihnen ist und vielleicht ein Stück der Geschichte begriffen hat: Nach jahrelanger gnadenloser Knechtung durch die Diktatur, in der sich die brutale, korrupte Bürokratie fest etabliert hat, kämpfen die Menschen nun jeder für sich um eine bessere Zukunft, und die liegt nicht in diesem Land. Dort sind fast alle Gesetze außer Kraft gesetzt, alles ist ins Rutschen gekommen, die Ordnung ist zusammengebrochen, das Leben des Einzelnen zählt nur noch wenig, falls es je gezählt hat. Armut und Hunger regieren, und wer dem beikommen möchte, darf in der Wahl seiner Mittel keine Rücksichten nehmen. Ein tief erschütternder Blick in ein zerstörtes Land, eine zerstörte Gesellschaft, Menschen, die so lange gelitten haben, dass sie für ihr eigenes Leid und das anderer fast unempfänglich geworden sind. Sie leben in unglaublichem Elend, ihre Gesichter und Gestalten erinnern an vergleichbare Bilder aus Rumänien oder ähnlichen Elendsgebieten, und alles, was sie aufrecht hält, sind die glitzernden, schillernden, trügerischen Plastikvisionen des italienischen Fernsehens. Italien ist Amerika für sie, das gelobte Land, dort wo es Arbeit, Essen, Gerechtigkeit und schöne Frauen gibt. Das Schlussbild zeigt ein Gesicht, zunächst skeptisch, dann aber doch hoffnungsvoll lächelnd, fast ein Optimismus, zu dem zuvor wenig Anlass bestand. Amelios Mitgefühl für diese Menschen mischt sich mit harter Kritik an der italienischen Rolle in dieser Sache, dem faschistischen Erbe, aber auch der neuerlichen neoimperialistischen Politik, die die alte Kolonie scheinbar wie selbstverständlich vereinnahmen will., die Flüchtlinge aber wieder zurückschickt. Der Film ist sehr emotional und atmosphärisch außerordentlich intensiv, vor allem den beiden Hauptdarstellern, dem des jungen Gino, der umlernen muss, und dem des alten Michele, der fünfzig Jahre seines Lebens verloren hat, glänzend gespielt. Auch ein Stück europäischer Geschichte, europäischer Tragödie, nur für uns sehr fern. (6.6.)