Les roseaux sauvages (Wilde Herzen) von André Téchiné. Frankreich, 1994. Élodie Bouchez, Gaël Morel, Stéphane Rideau, Frédéric Gorny, Michèle Moretti

  Sommer 1962 irgendwo in einem kleinen Dorf im Département Lot-et-Garonne, nicht weit vielleicht von Toulouse. Im Kino laufen Bergmans „Wie in einem Spiegel“ und Demys „Lola“, und in Algerien ist Krieg. Eine Lehrerin der örtlichen Schule: Sie ist Kommunistin, bekämpft die imperialistische Kolonialpolitik und erst recht den nationalistischen Terror der Pieds Noirs, der OAS. Dennoch verhilft sie einem frischegebackenen Bräutigam, einem ehemaligen Schüler, nicht zur Desertierung, weil er sie unsanft belästigt. Der Mann ist Sohn italienischer Einwanderer, einer Bauernfamilie. Sein jüngerer Bruder geht zur Schule und freundet sich mit einem anderen, eher geistig orientierten Jungen an, probiert ein bisschen Sex aus, kann sich aber letztlich doch nicht so ganz für eine Seite entscheiden. Denn da gibt es auch noch Maité, die Tochter der Lehrerin, der mit dem vergeistigten Herrn, der sich seines Schwulseins sicher zu sein glaubt, befreundet ist, aber auch auf andere einen großen und völlig verständlichen Reiz ausübt. Die drei sind viel zusammen, besonders als der große Bruder in Algerien stirbt, und die Lehrerin, von Schuldgefühlen traumatisiert, für einige Zeit in einer Klinik verschwindet. Der Vierte im Bunde ist ein schwieriger Außenseiter, als einziger schon einundzwanzig, also volljährig, die Eltern hatten lange mit ihm in Algerien gelebt, und auch er hängt an der Kolonie, bewundert die Generäle der OAS, womit er sich eigentlich nur Feinde macht. Dass Maité dennoch ausgerechnet mit ihm als erstem schläft, ist am Schluss typisch für diesen Film.

 

   Ein großartiger Film, der zugleich enorm persönlich und gefühlvoll, aber auch auf die für Téchiné typische Art spröde wirkt. Mögen diese Geschichten aus der Jugend in den frühen Sechzigern mit den Beach Boys und dem Twist auch autobiographisch verwurzelt sein, so färbt sich die Erzählung zu keiner Zeit nostalgisch oder sentimental, sie bleibt stets wach und bei aller Poesie klar und durchdringend. Gefühle und Politik verwirren einander und verschmelzen oft zu einer problematischen Einheit, die doch niemals eine sein kann. Maité und ihre Mutter stehen dabei im Zentrum dieses Themenkomplexes: Wie weit kann ideologische Überzeugung gehen? Unter welchen Bedingungen kann man ihr treu bleiben? Wie stark kann sie persönliche Beurteilungen anderer Menschen beeinflussen? Die Lehrerin ist dogmatisch, engagiert, kompromisslos. Dem Schüler, der in seinem Aufsatz nationalistisch-kolonialistische Tendenzen vertritt, verweigert sie strikt jegliche Anerkennung, und ihre Haltung färbt auch anfänglich auf ihre Tochter ab, doch beide müssen mit der Zeit einsehen, dass jede Ideologie auch eine menschliche Seite hat. Die Mutter bereut ihren Stolz, der nach ihrer Meinung wohl einen Menschen das Leben gekostet hat, so intensiv, dass sie fast den Verstand verliert, und die Tochter findet ausgerechnet den Burschen anziehend, der aufgrund seiner Überheblichkeit und seiner alles als sympathischen Ansichten wenig Freunde finden kann. Téchiné glänzt hier bereits mit seinen tiefgründigen, sperrigen Personenbeschreibungen, die sich einer Verurteilung enthalten, sondern eher zu unvoreingenommener, toleranter Betrachtung aufrufen. Hinter dem bürgerlich-rechten Armleuchter verbirgt sich eben auch nur ein unsicherer, einsamer junger Mann, der sich nach Liebe und Freunden sehnt, obwohl er so tut, als brauche er all dies nicht. Bei den anderen beiden Jungs geht es um eben dies. Der eine, athletisch und eher physisch ausgerichtet, hat es mit der Landwirtschaft und der Mathematik, der andere, ein schwächlicher Denker, liebt Filme, Bücher und kann mit Sprache umgehen, woraus sich eine aus gegenseitiger Hilfe bestehende Freundschaft und später auch eine homosexuelle, wenn auch sehr unsichere Verbindung ergibt. Während der erste sich eigentlich daraus zurückziehen möchte, versucht der zweite mit Erkenntnis, schwul zu sein, klarzukommen, indem er den einzigen ihm bekannten Schwulen am Ort, den Schuhladenbesitzer, anspricht und Rat erbittet. Dessen beklommen-verstohlene, ausweichende und abblockende Reaktion zeigt schon, dass in einer Kleinstadt auf dem lande nicht gerade ein fruchtbares Klima für sogenannte Randgruppen gedeiht. Auch hier geht es um Verwirrung, um die Suche nach einem richtigen Weg, manchmal unüberlegt, voreilig, manchmal mit Gewalt, aber immer von solch nachvollziehbarer Unbeholfenheit und Ängstlichkeit, dass man sich selbst leicht darin wiederfinden kann. Der Film nutzt die umwerfende Schönheit der Landschaft und des intensiven Lichts ebenso wie die Direktheit und Frische der Schauspieler, in deren Gesichter, besonders in das von Maité, man regelrecht hineinkriechen möchte, zu einer faszinierend einfühlsamen, komplexen Erzählung, die den politischen Hintergrund mit gleicher Leichtigkeit und Unangestrengtheit einbaut, wie die diversen erotischen Versuche und Exkurse der vier jungen Hauptpersonen. Einer jener Filme, von denen man nicht genug bekommen kann, bislang wahrscheinlich der beste dieses flauen Jahres. (8.5.)