"To vlemma tou Odyssea" (Der Blick des Odysseus) von Theo Angelopoulos. Griechenland/Frankreich/Italien, 1995. Harvey Keitel, Maia Morgenstern, Erland Josephson

Kusturica und Angelopoulos - zwei Männer vom Balkan, zwei große Epen, zwei verschiedene Temperamente und zwei völlig verschiedene Filme. Kustrucia erzählt die Geschichte der letzten fünfzig Jahre als bös-grimmig-übermütige Farce, Angelopoulos hat sich gleich das ganze Jahrhundert vorgenommen und daraus eine dreistündige Elegie gemacht, was angesichts seines übrigen Werkes auch nicht anders zu erwarten war. Er spannt den Bogen von den Anfängen des Films auf dem Balkan über die Nachkriegszeit bis hin zum Krieg in Ex-Jugoslawien heute, endet also ungefähr dort, wo auch Kusturicas "Underground" sein Finale hat. Ein vor langer Zeit nach Amerika emigrierter griechischer Regisseur auf den Spuren der Manakis-Brüder, zweier mazedonischer Pioniere, die das Leben der einfachen Landbevölkerung einfingen. Es soll noch drei unentwickelte Rollen geben, und der Mann ist wie besessen darauf, sie zu finden, diesen ersten, noch unentdeckten, unschuldigen, ganz neuen Blick. Die Odyssee führt ihn durch Griechenland, Albanien, Bulgarien, Rumänien bis hin nach Belgrad und schließlich Sarajewo, wo er die Rollen auftreibt, aber auch furchtbares Blutvergießen mitansehen muß. Zwischendurch versetzt er sich in Träumen immer wieder in die Person der Manakis' und ihre Konflikte mit Politik und Willkür, oder erinnert sich an seine Kindheit, an das Ende der Nazidiktatur und den fast bruchlosen Anschluß der Kommunistendiktatur, die dann schließlich die Familie ins Exil getrieben hat. Auch wenn man nicht über Details der Regionalgeschichte Bescheid weiß, erhält man einen tiefen Einblick in Psyche und Historie dieser vielfach erschütterten Gegend Europas: Kriege, Aufstände, Umstürze, Grenzverschiebungen, Terrorherrschaften, Entwurzelung, Flucht, Exil, Angst, Tod. Und nun sind alle Grenzen offen und die Menschen treiben hilf- und orientierungslos von Land zu Land auf der Suche nach einem neuen, besseren Leben, nach Arbeit und vielleicht auch nach etwas Ruhe. Angelopoulos, der geniale Epiker kommt in vielen wunderbaren Momenten zum Vorschein, in denen er ebenso eindrucksvoll, bildgewaltig und gefühlvoll von der Situation der Menschen auf dem Balkan berichtet, wenn er fast episodenhaft Einzelschicksal aufgreift und sie erkennbar für das Ganze setzt: Ein Taxifahrer zwischen den Grenzen, eine Kriegerwitwe in Bosnien, ein Journalist in Belgrad. Unterstützt von einer grandios schönen Musik und ebensolchen optischen Impressionen schafft er unvergeßliche Momente, faszinierende Einsichten und bewegende Erlebnisse, die sich dem Zuschauer sicherlich tief einprägen. Aber auch Angelopoulos, der etwas pathetische und etwas zu feierliche Botschaftenvermittler meldet sich auch immer mal zu Wort und sorgt für einige Längen, die den Fluß der Erzählung, der Reise, stören und einige banale, pseudotiefsinnige Verbalbetrachtungen bruchlos gegen eindringliche Szenen stellen. Harvey Keitel als der Reisende mit melancholischer Innensicht und einer etwas narzisstischen Haltung treibt manchmal wie in Trance und seltsam unbeteiligt durch das Geschehen und engagiert sich erst zum Schluß in Sarajewo sichtlich emotional, als die, er er lieben gelernt hat, im Nebel von gesichtslosen Mördern hingerichtet werden (übrigens eine ganz typische Angelopoulos-Szene). Wenn dieser Film vielleicht eine dreiviertel Stunde kürzer gewesen wäre, hätte er, an den 'richtigen' Stellen gestrafft, sicher nichts von seiner Substanz verloren. So bleibt der Eindruck zumindest zum Teil zwiegespalten: Wirklich berührende menschliche Appelle, brillant gefilmte Augenblicke auf der einen Seite, zu bedeutungsarme oder einfach nicht zum Schluß kommende Szenen auf der anderen. Man kann sich halt im Angesicht von Krieg, Tod und Not wirklich fragen, wie wichtig drei Rollen Film von anno Tobak sein können, und man kann sich allgemein auch fragen, ob der Film all das bewirkt hat, was Leute wie Angelopoulos ihm gern zuschreiben. Vielleicht hat er den Menschen neue Ansichten der Welt gegeben, aber die Welt selbst hat er wohl kaum verändert, geschweige denn verbessert. Es sind halt nicht alle Künstler so moralisch wie der Meister aus Griechenland. (10.4.)