"L'appat" (Der Lockvogel) von Bertrand Tavernier. Frankreich, 1994. Marie Gillain, Olivier Siturk, Bruno Putzulu, Richard Berry
Der Lockvogel ist Nathalie, achtzehn und hübsch und vor allem mit einer beachtlichen Adressensammlung gutbetuchter Pariser Herren ausgestattet, denen sie ab und an gegen Bezahlung als Abendbegleitung zu Diensten ist. Ihr Freund Eric, der vom großen Geschäft drüben in den Staaten träumt, kommt auf die fatale Idee, sie als Köder für Raubüberfälle zu benutzen, und gemeinsam mit ihr und seinem Kumpel Bruno macht er sich ans Werk. Das traurige Resultat: Zwei brutale Morde, Zerstörung und Gewalt für nichts.
Bis ungefähr zur Hälfte des Films amüsiert man sich erstmal: Nathalie ist einfach ein lebenslustiges Mädchen (ja, soll man sie nun als Hure bezeichnen?), die mit ihren Reizen ordentlich Kohle macht und mit ihrer besten Freundin Spaß hat. Eric und Bruno sind zwei Dumpfbacken, die allerlei krauses und unausgegorenes Zeug über den großen Coup und den profimäßigen Einstieg in den Big Business von sich geben. Drei Leute aus der MTV-Generation, könnte man unter Verwendung des Klischeerasters sagen, nur nicht ganz so erfolgreich wie jene Yuppies, denen die Anstrengung der Werbebranche vorrangig gilt. Als Eric dann aber seine Pläne konkretisiert, ist Schluß mit lustig, und das weiß man auch. Keiner der drei ist der Situation emotional im Grunde gewachsen, die Morde sind kaum mehr als äußerst grausame Panikreaktionen: Eric und Bruno schlagen mit blinder, hilfloser Wut zu, während Nathalie sich im Zimmer nebenan mit Videoclips betäubt, um den Horror ja nicht an sich heranzulassen. Die Opfer müssen sterben, weil Eric sich verplappert, oder weil nicht genug zu holen war. Das eigentlich dramatische an dem Film aber sind die Psychogramme, die Tavernier mit fast provozierender Beiläufigkeit und Kommentarlosigkeit serviert: Durch und durch materialistisch eingestellte Kids mit einer beängstigenden Entfremdung ihrer Gefühlswelt. Zwar sind sie von ihren Taten durchaus aufgewühlt, auf eine vage, schwammige Art, doch jeder tiefergehende Effekt, jeder Appell an das Gewissen versickert irgendwo zwischen Oberflächlichkeit, Konsum-und Zweckdenken. Zwar zeigt Nathalie zunächst starke Reaktionen, ist ihr wohl auch bewußt, daß das, was Eric und Bruno dort tun, schrecklich und unrecht ist, doch ist sie andererseits unfähig oder unwillig, Konsequenzen zu ziehen. Lieber verdrängt sie ihre kurzen Krisen, koppelt sich innerlich von sich selbst ab und macht dann einfach weiter. Als sie der Polizei schließlich ein Geständnis gemacht und die Jungs verraten hat, hofft sie, zu Weihnachten, wenige Tage später also, wieder draußen zu sein, um zu ihrem Vater nach Marseille reisen zu können. So etwas wie Schuldbewußtsein ist ihr fremd, offen und freundlichen lächelt sie den Beamten an, ein hübsches Abbild von Hohlheit und Kälte. Tavernier spielt uns zwar Informationen zu, die zu einer raschen Erklärung herhalten können - der etwas debile, naive Bruno, der jähzornige Jude Eric (von wegen political correctness!), das Scheidungskind Nathalie, doch ist bald klar, daß diese Sozioschablonen nicht ausreichen können, um allgemeingültige Phänomene neuerer Generationen zu erfassen. Man denkt an thematisch ähnlich gelagerte US-Filme und sieht die Gemeinsamkeiten sofort: Die schnelle Kohle, Genuß sofort, immer schick, immer hip, immer fit, aber nicht nur das. Eric nimmt für sich das Recht in Anspruch, den Wohlstand, den andere ihm voraus haben, mit seinen Mitteln einzufordern. Sein Traum, die Eröffnung eines Geschäftes in New York, geht ihm über alles, läßt ihn alle Bedenken, falls er je welche hatte, vergessen. Ein (für andere) tödlicher Egoismus, eine Selbstzentriertheit, die jegliches Mitgefühl abgeschafft hat. Dies scheint mir der wesentliche Aspekt zu sein, jedenfalls stellt ihn auch Tavernier besonders heraus. Er erhebt sich nicht über die drei, urteilt nicht, auch wenn er sich seine typische scharfe Ironie nicht verkneifen will. Die drei Hauptdarsteller sind ihren schwierigen Rollen toll gewachsen, tragen sehr bei zu diesem unbequemen Film, der einen Teil seiner Wirkung gerade durch seine nur vermeintliche Botschaftslosigkeit erreicht, aber trotzdem nicht mit den vielen amerikanischen Gewaltexzessen vergleichbar ist, die nur mit ihrer Tarantino-Coolness posieren, ohne etwas zu sagen zu haben. (15.4.)