"Utomlennye solncem" (Die Sonne, die uns täuschte) von Nikita Michalkov. Rußland/Frankreich, 1994. Oleg Menschikov, Ingeborga Dapkounaite, Nikita Michalkov, Nadia Michalkov, André Oumansky
Auch 1936 gibt es sie noch, jene weißgewandete, westlich orientierte russische Bourgeoisie, die sich im Schatten der ewigen Sommerbirken auf den Datschas vergnügt mit Musik, Literatur und anderer Erbauung. Gelegentliche Störungen durch Armeemanöver oder Gasalarmübungen der Pioniere werden glimpflich überstanden oder mit Humor genommen, und doch hat diese Geschichte, die doch eigentlich ein wunderbares Sommeridyll sein könnte, keinen glücklichen Ausgang: Als Mitja, der Ex-Liebhaber seiner jungen Frau unerwartet wieder auf dem Landsitz ihrer Familie aufkreuzt, ahnt der respektierte und vieldekorierte Oberst Sergej Kotow nichts Gutes. Zunächst scheint sich nur ein kleines Katz-und-Maus-Spiel um die Gunst Maroussias zu entspinnen, doch bald kommt auch die Politik ins Spiel und am Schluß erkennen die Männer ihre tödliche Feindschaft: Mitja, einst auf Kotows Druck versetzt und damit von Maroussia getrennt, kommt als Agent und Jäger systemfeindlicher Elemente wieder, und ausgerechnet der beliebte und scheinbar so linientreue Kotow wird als Spion ausgemacht. Kotow und auch Maroussia viele Jahre später sterben im Lager, Mitja verübt Selbstmord, was der Geliebten einst mißlang, und nur Sergejs und Maroussias Tochter Nadia überlebt und hat etwas von der späten Rehabilitierung der Familie in den Fünfzigern.
Ein für mich ganz überraschend großartiger Film von Michalkov, der sowohl als Regisseur als auch in der Rolle Sergejs enormen Charme versprüht und fast zwei Stunden auf fantastisch unterhaltsame Art und Weise verstreichen läßt. Man suhlt sich in der warmen Landluft, räkelt sich unter Birken oder an Flüßchen, macht ein Tänzchen, stülpt zwischenzeitlich auch schon mal Gasmasken auf oder verscheucht einen Haufen Panzer vom Acker, aber alles ist so leicht, so wenig und launig, wie das kleine Mädchen Nadia, deren kleine Streiche und Eigensinnigkeiten für viel gute Laune sorgen. Auch Mitja ist ein humorvoller Mann, doch spürt man hinter seinen Scherzen bald eine Bitterkeit, die deutlicher wird, als er Nadia ein Märchen erzählt, das, wie wir wohl wissen, kaum verhohlen seine eigene Geschichte ist. Immer wieder bricht der Witz durch, mal blanker Schalk und genialer Nonsens, mal eher hintergründige Anspielungen, doch der Ton wird zusehends vermischt, unberechenbar, kann jederzeit umkippen, und das macht die Spannung und Faszination des Films aus. Um die ganzen politischen Verstrickungen zu verstehen, muß man mal wieder einige Hintergrundkenntnisse haben, aber auch so begreift man doch die Konflikte zwischen der brutalen Stalindiktatur, dem Apparat an sich und den einzelnen Menschen. Auf der Datscha ist Sergej der einzige überzeugte Sovjet, da die anderen noch eher der alten frankophilen, als kommunistischer Sicht reaktionären bürgerlichen Attitüde nachhängen. Mitja ist zum Denunzianten und Agenten wider Willen geworden, auch er zerbricht an dem Versuch, innerhalb des Systems zu überleben. Maroussia hängt Mitja und dem alten Leben nach, liebt aber auch den lieben und gutmütigen Sergej. Andere, wie jener skurrile Lastwagenfahrer, der immer mal wieder durch die Gegend braust, kommen einfach so unter die Räder, weil sie im Weg sind. Und über allem erheben sich Fahnen, Stalinposter, pompöse Ballons und allerhand sonstige idiotische Kulthandlungen, die den Stalinismus ausgezeichnet haben. Michalkov hat einen Gesellschaftsfilm im klassischen Stil gedreht, vieles erinnert von Farben und Stimmungen an Cechov, doch die tiefgründigen Gruppenporträts und die ausgewogenen Schauspielerleistungen werden glänzend ergänzt durch Satire und Humor und viele poetisch-lyrisch-bukolische Bilder. Ein Fest fürs Auge und für die berühmten grauen Zellen, eine wirklich ganz feine Sache. (24.4.)