"Campanadas a medianoche/Chimes at Midnight" (Falstaff) von Orson Welles. Spanien/Schweiz/England, 1966. Orson Welles, John Gielgud, Keith Baxter, Jeanne Moreau, Margaret Rutherford, Norman Rodway, Alan Webb, Marina Vlady, Fernando Rey, Tony Beckley, Walter Chiari
Ein echter Orson-Welles-Film, den man schon von außen die abenteuerlichen Umstände seiner Entstehung ansieht: Finanziert mit Schweizer Kohlen, gedreht in Spanien mit offensichtlich bescheidenen Mitteln, dafür aber einer exquisiten Starbesetzung und maximalem Enthusiasmus, der es einmal mehr vermocht hat, bemerkenswerte Resultate hervorzubringen. Man muß sich beim ollen William Shakespeare schon ganz gut auskennen, um die Mixtur zu entschlüsseln, die Welles da aus nicht weniger als vier verschiedenen Stücken gebraut hat, doch es ist ihm tatsächlich gelungen, einen organischen Film zu destillieren, der nur ganz wenig lose Fäden hat, wie zum Beispiel die Rolle Jeanne Moreaus, die sich zwar äußerst fotogen, aber doch irgendwie nebensächlich am Rande der Handlung tummelt. Es geht zum einen um ein Königsdrama, um Thronfolgekrieg, Haß und Intrigen am Hof Henry IV. und zum anderen um den dicken alten Falstaff, einen Tunichtgut und Gernegroß, einen Trinker, Raufbold und Clown, der mit dem Sohn des Königs herumzieht und allerlei Unfug ausheckt. Am liebsten treibt er sich im Haus der Mistress Quickly herum, aber er schnuppert auch schon mal Schlachtenlärm, wenn auch aus sicherer Entfernung, und versäumt es niemals, seine vermeintlichen Heldentaten in gebührenden Worten zu schildern. Am Schluß steten Verrat und Tod: Sein junger Freund kommt nach des Vaters Tod als Henry V. auf den Thron, doch er verleugnet Falstaff öffentlich und läßt ihn sogar einkerkern. Falstaff stirbt an gebrochenem Herzen.
Gerade diese letzte Passage macht ein Vergleich zwischen Welles' Film und Branaghs "Henry V." interessant: Branagh zeigt Henrys Abkehr von Falstaff und von alten, leichtlebigen und allzu sorglosen Zeiten als einen notwendigen Schritt zur Reifung auf dem Weg zu dem großen König, der die Franzosen besiegen sollte. Falstaff ist nurmehr ein Hindernis, ein monströser, debiler Säufer, der dem ehrgeizigen König nicht mehr nützen kann. Welles steht genau auf der anderen Seite. Natürlich präsentiert auch er Falstaff als ein altes, großes Kind, als einen dröhnenden, einfältigen Tor, doch hinter dieser Maske steckt allerlei Einsicht in den Lauf der Welt, in den Wandel der Zeiten. Freundschaft, Wärme und Ehrlichkeit sind rar geworden, es zählt vor allem die Gier nach Macht und Ruhm, der alles andere unterworfen wird. Falstaff hat sich beizeiten zurückgezogen aus dem Spiel und spielt nun sein eigenes, wobei er den mitunter recht rüden Spott der Mitmenschen erträgt, weil er ihm letztlich auch als Schutz dient. Nur ein einziges Mal stellt er sich bloß, liefert er sich aus: Als er in die Krönungszeremonie platzt und den jungen König, seinen Freund, lautstark feiert. Die kalte Abfuhr, die er einstecken muß, zerbricht ihn, was in Welles' Darstellung wunderbar zum Ausdruck kommt. Er wertet Henrys Verhalten als gemeinen, berechnenden Verrat, als eine öffentliche Verleugnung nicht nur des Freundes, sondern auch der eigenen Vergangenheit, als eine Hinwendung zur Rücksichtslosigkeit und Unmoral der Mächtigen. Und genau hier steht Welles mit seiner ganzen Person auch: Auf der Seite der Menschlichkeit und gegen die Macht, die einander zwangsläufig ausschließen müssen.
Diverse technische Mängel, die eben vom begrenzten Budget zeugen, werden von eindrucksvollen Schauspielern und einer trotz allem grandiosen Optik wettgemacht. Besonders die hohen, nur von einzelnen Lichtbahnen durchfluteten Räume des Schlosses sind atemberaubend anzuschauen, wobei sie sich von den niedrigen Decken der diversen Falstaffschen Behausungen vielsagend abheben. Zimmerarchitektur war ja stets ein Faible von Welles, und hier hat er sie so effektvoll genutzt, wie in allen seinen besten Filmen. Spektakulär ist auch die ausgedehnte Schlacht um die Thronfolge, die die Agincourtsequenz bei Branagh fast wie ein lasches Picknick erscheinen, und in den atemberaubend furios geschnittenen Aktionen nur noch an Kurosawa denken läßt. Ein ungewöhnlicher und selten zu sehender optischer und auch sprachlicher Genuß, der Welles auf der Höhe seiner Kreativität und Ausdruckskraft erlebt. (11.12.)