"Secrets and Lies" (Lügen und Geheimnisse) von Mike Leigh. England, 1996. Brenda Blethyn, Marianne Jean-Baptiste, Timothy Spall, Phyllis Logan, Claire Rushbrook

Das große Kinouniversum dieser Tage wird, natürlich, von Hollywood und seinen neuesten Exkrementen bevölkert, als da wären Wirbelstürme, Aliens, Schwarzeneggers und sedierte Polarbären. Aber dann gibt es da immer noch jene kleine Parallelgalaxie, in der auch ein Kinogänger wie ich von Zeit zu Zeit mal zwei glückliche Stunden verbringen kann. Mike Leigh macht genau solche Filme, die, ohne daß sie sich besonders avantgardistisch geben müssen oder das Schild 'künstlerisch wertvoll' vor sich hertragen, dennoch Lichtjahre entfernt sind vom Mainstreamauswurf. Filme, die sich auf Menschen in ihrem Milieu konzentrieren, die keine wahnwitzig aufgeblasenen Stories und keine millionenschweren Stars und auch keine computeranimierten Cybertricks benötigen, und die vor allem Gefühl nicht mit Kitsch verwechseln. Die Amis haben das noch nie hingekriegt, aber die Brits sind große Experten auf dem Gebiet, eben Leute wie Leigh oder Ken Loach, die ich komischerweise immer in einem Atemzug nenne, vermutlich weil sie für mich zu den wenigen Hoffnungen im Kino zählen.

Leighs neuer Film ist nicht mit dem finster pessimistischen 'Naked' zu vergleichen. Wo sich dort die Leute in unversöhnlicher Aggression gegenüberstanden, wo sie aus Haß gegen andere oder sich selbst auseinanderliefen, gehen sie hier wieder aufeinander zu, sprechen miteinander, teilen am Schluß ihre Sorgen, weil sie erkannt haben, daß man sein Leben nur gemeinsam mit anderen meistern kann. Die Familie ist Ursprung von Lügen, Vorurteilen, Neid und übler Nachrede, aber birgt in sich eben auch das Potential zu Liebe, Toleranz und Geborgenheit, wenn man bestimmte Grenzen überwinden kann. Maurice ist es hier in erster Linie, der sich und seiner Familie hilft, dies zu tun. Er hat sich als Fotograf eine ganz ansehnliche Existenz aufgebaut, was von seiner Frau auch ganz gern herausgestrichen wird. Seine Schwester Cynthia dagegen hat aus dem ärmlichen Milieu ihrer Kindheit nicht herausgefunden, eine einfache, einsame und unglückliche Fabrikarbeiterin mit einer unfreundlichen unehelichen Tochter und ohne Freunde. Eines Tages taucht Hortense auf, eine Schwarze, ebenfalls aus der begüterten Mittelschicht, und behauptet, ihre leibliche Tochter zu sein. Cynthia will es nicht glauben, doch dann erinnert sie sich: Sie war fünfzehn und wollte das Kind nicht einmal ansehen, weshalb es zur Adoption freigegeben wurde. Der Annäherungsprozeß der beiden setzt viele Emotionen frei, die sich dann anläßlich einer Geburtstagsfeier auch im Familienkreis entladen. Ungesagtes, seit Jahren Verdrängtes, ewig Runtergeschlucktes kommt endlich heraus und siehe da: Sie schreien sich an, aber sie befreien sich auch von schlimmen Altlasten und können erst jetzt wieder offener und auch verständnisvoller miteinander umgehen.

Fast zweieinhalb Stunden läßt sich Leigh für diese im Grunde recht einfache Geschichte. Sein Film ist auch nicht übermäßig komplex oder tiefgründig, er überzeugt auf anderen Gebieten. In langen, ineinander verschachtelten Szenen gibt er dem Zuschauer die Gelegenheit, am Alltagsleben der Personen teilzunehmen, ihnen zuzuschauen im Haushalt, bei der Arbeit oder sonstwo. Das Besondere entsteht aus der Normalität heraus und ist von ihr nicht zu trennen. Erst wenn man die Menschen in ihrer Umgebung wirklich sieht und versteht, kann man auch Interesse für sie entwickeln. Eine Lektion, die man nicht vergessen sollte, zumal sie hier ungewöhnlich gründlich exerziert wird. Es gibt komische und sehr traurige Episoden, und manchmal jene bestürzenden Momente, in denen man erkennt, wie sich die Leute auseinanderleben können, auch oder gerade innerhalb der Familie. Die Angst, tiefliegende Gefühle ehrlich auszusprechen, hat die Beteiligten jahrelang blockiert, und es bedarf eines enormen Kraftaktes, um diese Fesseln zu lösen, ein Kraftakt, der auch dem Zuschauer einiges abverlangt, denn er muß sich Szenen aussetzen, die durch keinerlei melodramatischen Firlefanz abgemildert und verkitscht werden. Der Stil des Films ist sehr direkt, genau und schnörkellos, er zeigt auch das noch, was andere Regisseure längst ausgeblendet hätten, und findet dennoch zu einem so optimistischen Schluß. Ob die Einsicht, daß eine schmerzvolle aber offene Aussprache automatisch zu einem besseren Miteinander führt, nun unbedingt auf jede Familie oder jede Gruppe zutreffen muß, darf bezweifelt werden. Aber ich glaube auch nicht, daß Leigh eine Art Patentrezept vorstellen wollte, er wollte vielmehr zeigen, was für diese bestimmten Menschen möglich wäre, und das ist ihm mit Hilfe großartiger Schauspieler und unter sicherer Umgehung falscher Töne vollkommen gelungen. (1.10.)