"Lust och fägring stor" (Schön ist die Jugendzeit) von Bo Widerberg. Schweden/Dänemark, 1995. Johan Widerberg, Marika Lagercrantz, Thomas von Brömssen, Karin Huldt, Björn Kellman
Die Schweden (aber auch die übrigen Nordländer) haben zwei hervorstechende Obsessionen, denen sie in Film und Literatur immer und immer mit scheinbar unerschöpflichem Variationsreichtum frönen: Den Sommer und die Kindheit. Mal laufen die beiden zusammen, manchmal aber auch getrennt, so wie hier. Widerbergs Erzählung aus dem Krieg, vom Erwachsenwerden in Malmö, im Milieu ein wenig an seinen Klassiker 'Das Rabenviertel' angelehnt, hat gar nichts mit dem Sommer zu tun, ist aber ein Paradebeispiel für die dort oben hochentwickelte Kunst, den komplexen, von widersprüchlichen Gefühlen gesäumten Aufeinanderprall zweier Welten rational und sinnlich nachvollziehbar zu machen.
Stig ist fünfzehn, geht zur Schule, und alles wofür er und seine Kumpel sich interessieren, dreht sich um Sex. Ominöse Daten schweben allmorgendlich durchs Klassenzimmer, geflüsterte Definitionen von Orgien, weiblichen Orgasmen, Schätzungen zur Athletik des Geschlechtsverkehrs, es werden Kondome im Fünfhunderterpack feilgeboten und Schamhaare gemessen. Wer zwei Zentimeter vorweisen kann, kriegt Geld. Außer dem Juden, denn der ist ja sowieso dicker behaart als die anderen. Stig liebt die neue Lehrerin Viola. Er nähert sich ihr, und plötzlich geht sie auf ihn ein und eine leidenschaftliche Beziehung entsteht. Bis er ihren Mann Kjell kennenlernt, einen alkoholisierten, aber im Grunde lieben, versponnenen und hilflosen Vertreter und Sonderling, dem er sich irgendwie näher und verwandt fühlt. Er und Viola entfremden sich, sie kämpft, und als sie verliert, spielt sie ihre Macht als Erziehungsautorität aus und läßt sie ihn die Klasse wiederholen. Aber Stig ist kein Kind mehr, er hat gelernt, nimmt die Konfrontation an, auch wenn er gehen muß. Parallel gibt es noch andere Geschichten - die vom Bruder bei der Armee, der eigentlich Boxer ist, sich dann aber auf ein U-Boot versetzen läßt und dort ums Leben kommt. Oder die vom Nachbarsmädchen, das seine Unschuld unbedingt an Stig verlieren will, ihr Ziel erreicht, ihn aber auch nicht kriegt, weil er zwischen den Welten pendelt. Durch Viola und Kjell hat er die Welt der Kinder verlassen, aber die der Erwachsenen doch noch nicht ganz betreten, sieht sie noch immer aus einer Distanz, einer Mischung aus Furcht, Abscheu, Unverständnis. Er versteht nicht, warum sich Kjell nicht wehrt gegen seinen drohenden Absturz im Geschäft und gegen Violas Behandlung, und er versteht auch nicht, warum Viola ihn nicht einfach gehen läßt. Aber er versteht, daß Viola ihn besitzen, über ihn verfügen will, er spürt ihre Neigung zur Grausamkeit, zum Egoismus, und er bekommt beides zum Schluß zu spüren. Im entscheidenden Moment grenzt sie sich von ihm ab, degradiert ihn wieder zum Schüler, letztlich zum Lustobjekt, und stellt sich auf die höhere Stufe der Macht. Er kann nur weichen, aber er nimmt wenigstens die Wörterbücher mit, in denen alles Wissen versammelt ist.
Widerberg ist ein leider sehr selten gesehener Gast im Kino, und deshalb vergißt man schnell, daß Regisseure wie er (oder beispielsweise auch Jan Troell) nicht automatisch so glatt und linienförmig arbeiten, wie die, deren Erzeugnisse man in der Mehrzahl zu sehen kriegt. Wenn der Film manchmal etwas holperig oder gar schleppend wirkt, liegt das daran, daß Widerberg einfach anders erzählt und schneidet als jene, die allein auf kommerzielle Wirkung schielen. Auch für meinen Geschmack gibt es in den gut zwei Stunden den einen oder anderen Durchhänger, doch dann gelingen ihm immer wieder solch wunderbar charmante, erotische, komische und auch bedrückende Szenen, daß man sofort alles andere vergißt. Die erste Stunde ist leichter, witziger, die zweite dann notwendigerweise etwas ernster, gründlicher und komplizierter, weil sich halt Gefühle und Bindungen verstricken. Die beiden Hauptdarsteller Johan Widerberg und Marika Lagercrantz sind grandios (auch das eine segensreiche schwedische Tradition), die Kamera ist intim geführt und die Musik gänsehautreif eingefügt. Wenn der merkwürdige deutsche Titel fröhlich-naive Nostalgie verspricht, lügt er, denn trotz vieler verrückter Details und liebevoll beobachteter Einzelheiten auch aus dem Familienleben Stigs kann von einer sentimental verklärten Rückschau eines alternden Filmemachers gar keine Rede sein. Widerberg fesselt und bewegt uns vielleicht nicht in jeder Minute, aber wenn er es tut, dann spielt er sein Können voll und ganz aus. (24.9.)