"Haut Bas Fragile" (Vorsicht: Zerbrechlich) von Jacques Rivette. Frankreich, 1995. Marianne Denicourt, Nathalie Richard, Laurence Cote, André Marcon, Bruno Tedeschi, Anna Karina
Nach seinen epischen Ausflügen in die Welt der Malerei bzw. der Jungfrau von Orléans ist Rivette nun wieder in Paris gelandet, das sich ihm immer noch genau so darbietet, wie schon vor fünfundzwanzig und mehr Jahren: Ein Labyrinth aus Straßen, Häusern, Plätzen, wie geschaffen für Rätsel, Verstrickungen und Überraschungen, für Lebenswege, die einander kreuzen und sich schließlich irgendwie, wenn auch nur für kurze Zeit, vereinen. Und wie schon so oft schickt er grazile, schöne junge Frauen auf diese Reise, die nie zu Ende gehen wird. Louise kommt nach fünf Jahren Koma aus der Klinik zurück nach Paris, erbt das Haus ihrer Tante, will sich aber von ihrem Vater und dem alten Leben abnabeln. Sie muß erkennen, daß ihr Vater Schuld am Tod eines Mitarbeiters war, vernichtet aber die Beweise und verliebt sich vielleicht in einen jungen Mann, der auf sie aufpassen sollte. Ninon hilft ihrem Kumpel, andere Männer auszurauben, zieht sich aber eines Tages geschockt zurück, wird Eilbotin per Moped, klaut aus der Kasse, verdreht dem Mann aus dem Atelier nebenan den Kopf und geht gern tanzen. Ida ist neu in der Stadt, ein Adoptivkind auf der Suche nach ihren Ursprüngen, unsicher in ihrer Identität, zumal ihr ständig jemand sagt, daß sie ihn an eine andere erinnere. Ein Chanson im Radio ist ein Anhaltspunkt, dem sich nachgeht, bis sie die Frau findet, die ihn singt. Vielleicht ist sie ihre leibliche Mutter.
Rivette braucht fast zwanzig doch recht zähe Minuten, bis er zu seinem Rhythmus gefunden hat, aber angesichts einer Spieldauer von mal wieder zweidreiviertel Stunden ist das noch nicht mal so schlimm. Wenn er dann soweit ist, verknüpft er die Geschichten der drei Frauen mit zauberhafter Leichtigkeit, charmanter Eleganz und der gewohnten stilistischen Anmut. Die Pfade kreuzen sich mal im Atelier, mal in der Bar, in der auch Idas mögliche Mutter singt, mal im Haus von Louises Tante. Alle drei treffen nie zusammen, eigentlich bleibt Ida für sich, während die anderen beiden gemeinsam nach versuchen, Auskunft über die Vergangenheit von Louises Vater zu erlangen. Männer sind natürlich auch im Spiel, aber mit denen wird höchstens mal geflirtet, und es ist, wie fast alles hier, offen, ob sich was Ernstes entwickelt. Die Mysterien, denen wir hier begegnen, sind keine großen Verschwörungen oder sonstige dunklen Sachen, sondern eher Mysterien des Alltags. Die alte, verwachsene und verwunschene Villa mitten in Paris mit ihren alten Möbeln, von denen der Mann aus dem Atelier ein paar abgestaubt hat. Das Chanson im Radio, dem Ida mit fast detektivischen Mitteln nachzuspüren versucht. Der junge Mann, der Louise allzu ungeschickt beschattet, oder die obskure Spielrunde im Keller des Klubs, die Louise einen bösen Streich spielt. Sofern man Geschmack an solcher Kunst findet, wird man dieses Geschehen amüsiert verfolgen, mit der Gewißheit (sofern man Rivettes Filme kennt), daß sich höchstwahrscheinlich keine endgültigen Auflösungen einstellen werden. Dafür wird man dann durch völlig überraschend eingebaute, ganz wunderbar vorgetragene Gesangs- und Tanzstücke entschädigt, die die Schauspieler selbst erarbeitet und an denen sie offensichtlich sehr viel Spaß haben. Dieser unvermittelte und entwaffnende Einbruch der Welt Jacques Demys in diesen Film gibt ihm eine zusätzliche heitere, offene Note, die die älteren, oft mythisch vertrackten Werke der Siebziger nicht in dem Maße haben, weshalb ich "Haut Bas Fragile" ihnen auch vorziehe. Rivette greift auf bekannte Elemente zurück, aber er hat sie aufgefrischt, vielleicht auch etwas modernisiert, und dies ist ihnen in diesem Fall ausgezeichnet bekommen. Kein Film, der an seinen beiden Vorgängern gemessen werden sollte, aber eine sehr schöne Stilübung mit leichter Hand und bestrickendem Charme, die zeigt, daß man auch mit etwas anderen Mitteln gut unterhalten kann. (31.10.)