"En avoir (ou pas)" (Haben oder nicht) von Laetitia Masson. Frankreich, 1995. Sandrine Kiberlain, Arnaud Giovanetti, Roschdy Zem, Claire Denis, Jean-Michel Fete, Didier Flamand
Alice lebt in Boulogne-sur-mer, verliert ihren Fabrikjob, bewirbt sich woanders, scheitert auch dort, geht nach Lyon, zieht in einem kleinen Hotel ein, trifft dort Bruno, findet einen Job und findet auch mit Bruno zusammen.
Eine einfache Geschichte, ein einfacher Film und genau deshalb auch ein sehr schöner Film. Es geht nicht um den Lauf der Welt und auch nicht um Herz-Schmerz-Angelegenheiten schicker Menschen in schicken Apartments, sondern es geht darum, wie sich ganz normale Menschen in ihrem ganz normalen Alltag mehr oder weniger über Wasser halten. Alice hat zwar ein etwas trauriges Gesicht, aber sie ist keineswegs gewillt, sich unterkriegen zu lassen. Sie trennt sich von ihrem Freund, weil sie es will, schläft mit wem sie will und läßt es sein, wenn sie nicht will. Ihr Selbstbewußtsein resultiert zum einen aus dem Überlebenssinn, zum anderen aber auch aus der Einsicht, daß man immer wieder von vorn anfangen muß, wenn man irgendwohin kommen will. Bruno wirkt schwächer, verwirrter und verletzlicher. Er sucht Nähe bei einer Prostituierten, beschimpft seine Ex per Telefon und irritiert Alice durch seine Launenhaftigkeit zwischen ruppiger Übellaunigkeit und plötzlichem Interesse. Wie diese beiden unternimmt auch der Film an sich keinen Versuch, sich beim Publikum anzubiedern. Er verbleibt vielmehr in seinem spröden Realismus, der einfachen, kunstlosen Bildsprache und der oftmals unverblümten Direktheit der Sprache. Es wird nichts schlimmer gemacht, als es ist, aber es wird erst recht nichts beschönigt. Arbeitslosigkeit und die Einsamkeit der Städte gehören wie selbstverständlich zur Alltagserfahrung, weshalb auch kein großes Aufhebens mehr darum gemacht werden muß, wie überhaupt ein lakonischer, eher elliptischer Stil die Erzählung beherrscht. Zwischen genauen Milieustudien, wunderbar natürlichen Darstellern, zärtlichem Humor und mitfühlenden, aber niemals aufdringlichen Beobachtungen findet der Film eine sehr schöne Balance, die ihn für mich zum ersten wirklich lohnenswerten Kinobesuch des Jahres macht. (26.2.)