"The sweet hereafter" (Das süße Jenseits) von Atom Egoyan. Kanada, 1997. Ian Holm, Caerthan Banks, Sarah Polley, Tom McCamus, Gabrielle Rose
Ein Mann kommt aus der großen Stadt in eine kleine Stadt. Diese Stadt ist nicht mehr dieselbe, seitdem der vollbesetzte Schulbus in den vereisten See eingebrochen ist und fast alle Kinder ertrunken sind. Der Mann ist Anwalt, und er möchte irgendjemanden für den Unfall verantwortlich machen und ein hohes Entschädigungsgeld für die hinterbliebenen Eltern herausschlagen. Alles hängt von der Aussage eines Mädchens ab, das den Unfall überlebte. Doch das Mädchen spielt nicht mit: Indem es aussagt, die Busfahrerin sei zu schnell gefahren, vereitelt es jede Hoffnung auf eine Schadensersatzklage.
Ein sehr stiller und sehr komplexer Film über Schattierungen einer Tragödie und wie sie sich auf einzelne Menschen und auf die Gemeinschaft im Ganzen auswirkt. Das Mädchen gibt dem gescheiterten Anwalt am Schluß eine Art Erklärung mit auf den Weg: Seit dem Unfall sind die Menschen hier nicht mehr, die sie vorher waren, sie leben vielmehr selbst in einer Art Leben nach dem Leben, im Jenseits, haben mit Gegenwart und Zukunft abgeschlossen. In Wirklichkeit aber führt Egoyan viele verschiedene Möglichkeiten vor, mit dem entsetzlichen Ereignis fertig zu werden: Die einen flüchten sich in hilflose Aggression, wollen jemanden drankriegen, andere ziehen sich in Paralyse und Trauer zurück, wieder andere konstatieren scheinbar nüchtern, daß das Leben weitergehen und man nun an den größtmöglichen Vorteil denken müsse, und wieder andere pochen noch immer auf die Stärke der Gemeinschaft und wehren energisch jeden Versuch der Einmischung von außen ab. Stevens, der Anwalt, ist ein Fremdkörper in dieser Gesellschaft, dennoch drängt er sich mit großer Intensität und Hartnäckigkeit in das Leben der Leute, führt ihnen eindringlich vor Augen, wie wichtig es sei, auszusagen, und daß man nur so weiteres Unheil verhüten könne, gibt sich abwechselnd einfühlsam und mit trauernd, und dann wieder insistierend, drängend. Egoyan hat ein chronologisches Puzzle entworfen, an dessen Ende wir nicht nur die Geschichte des Unfalls und seiner Folgen kennen, sondern auch Mr. Stevens Geschichte, die in ihrer Art nicht weniger tragisch scheint und außerdem erklärt, weshalb er sich so tief in diesen Fall verbeißt. Er selbst hat nämlich auch seine Tochter verloren. Die lebt zwar noch, doch hat sich völlig entfremdet von ihren Eltern, ist seit langem drogenabhängig und nun auch noch aidskrank. Gelegentliche Telefonate zwischen Vater und Tochter verdeutlichen die unüberwindliche, verzweifelte Kluft zwischen ihnen, und an anderer Stelle auftauchende Erinnerungen zeugen von den Hoffnungen und Freuden, die die junge Familie einst haben durfte. Wenn man die verschachtelte, sehr raffinierte und brillant vollzogene Struktur außer Acht läßt, ist dies ein Film über sehr elementare Dinge und Gefühle. Es geht um Familien, um Trauer, Wut, Ohnmacht, Liebe und die feinen Unterschiede zwischen Einsamkeit und Gemeinschaft. Einiges wird dabei nicht bis ins Letzte ausgeleuchtet und ausgesprochen. Egoyan deutet viel an, beläßt es aber auch dabei, nimmt seinen Figuren keineswegs alle Geheimnisse, sondern schafft seinerseits eine von Geheimnissen und Lügen belastete Stimmung. Immer wenn man glaubt, nun kommt der Film zum Kern einer Geschichte, wechselt Egoyan wieder das Thema, und am Schluß weiß man vielleicht mehr als zu Beginn, aber noch lange nicht alles. Entweder ist man darüber frustriert, oder aber man fühlt sich zum Nach- bzw. Weiterdenken angeregt, was meiner Meinung nach absolut der Fall sein sollte, denn Egoyan erweist sich außerdem als ein enorm einfühlsamer Regisseur, der seinen Figuren bei alledem sehr nahe ist und Emotionen sehr tief nachspürt, nur eben nicht immer bis ganz auf den letzten Grund. Dazu kommt noch die formale und darstellerische Geschlossenheit, die beeindruckende Angemessenheit der künstlerischen Umsetzung, und schon hat man einen Film, wie man ihn nicht sehr oft zu sehen bekommt, einen Film, der einen tatsächlich auch noch fünfzehn Minuten nach dem Ende beschäftigt. (31.3.)