"Ponette" (#) von Jacques Doillon. Frankreich, 1996. Victoire Thivisol, Xavier Beauvais, Marie Trintignant, Claire Nebout, Matiaz Bureau Caton, Delphine Schiltz, Aurélie Vérillon
Die Geschichte der kleinen Ponette, die ihre Mutter bei einem Autounfall verliert, bei ihrer Tante und später in einem Ferienheim unterkommt, verschiedene religiöse Verwirrungen erlebt und am Schluß dank einer fantastischen Vision vielleicht doch noch den Weg zurück ins Leben findet.
Verschiedenste Einflüsse hageln auf das kleine Mädchen herab und jeder sorgt für mehr Einschüchterung, Verunsicherung und Verängstigung. Der Cousin und die Cousine kommentieren den Tod ihrer Tante kindlich nüchtern und pragmatisch. Sie machen ihrer Cousine klar, daß die Mutter tot sei und nie mehr wieder käme. Die Tante ihrerseits kommt mit dem Bild vom Himmel, vom Paradies und versucht Ponette damit zu trösten, daß die Mutter dort oben auf sie schaue und es ihr gut gehe. Der Vater hat genug mit seinem eigenen Schmerz zu tun und versucht Ponette den Einflüssen zu entziehen, ohne allerdings die Zeit dafür aufbringen zu können. Im Heim gibt es ein Mädchen, das sich Kind Gottes nennt und Ponette allerlei Mutproben aufbürdet, um auch dorthin zu gelangen. Im Haus gibt es eine Art Kapelle, und verschiedene Erwachsene trichtern dem Kind wiederum andere Geschichten von Engeln und Wiedergeburt und dergleichen ein. Ponette selbst schwebt lange Zeit zwischen Leben und einer Art Jenseits, nicht unbedingt dem Tod, aber jedenfalls einem Zustand außerhalb des irdischen Geschehens. Sie grenzt sich weitgehend aus, wird manchmal Opfer grausam-kindlicher Streiche, entwickelt ihre eigenen Spiele, ihr eigenes Universum, sie kommuniziert mit ihrer Mutter, erwartet verzweifelt ihre Rückkehr und hat am Ende diesen intensiven Tagtraum, in dem ihre Mutter erscheint, mit ihr ein langes Gespräch führt und ihr eindringlich klarmacht, daß sie, Ponette, weiterleben müsse, weil es noch soviel Schönes zu erleben und zu lernen gebe. Erst dieses Erlebnis, das sie anders als alle vorherigen beeinflußt, weist ihr den Weg in die Zukunft, die vielleicht vom Vater personifiziert wird, der sie mit dem Auto holen kommt. Ein optimistischer, vorwärtsgerichteter Schluß, der aber nicht vergessen macht, welche Krisen und Konflikte Ponettes bis dorthin durchzustehen hatte.
Ein ganz großartiger, geradezu überwältigend gefühlvoller Film, der sich der Seele eines Kindes stärker annähert, als jeder andere, den ich kenne. Manche Szenen erinnern an Cléments Klassiker "Verbotene Spiele", aber natürlich hat Doillin seine eigenen Themen. Vor allem die Einflüsse der Religion, wie sie durch die vielen Personen hier auf vielfältige Weise transportiert wird, und was sie im Einzelnen in Ponettes Innern anrichten, stehen im Mittelpunkt, natürlich neben dem andauernden Versuch des Kindes, irgendwie mit dem Tod der Mutter fertig zu werden. Es gibt Szenen, die einen zu Tränen rühren, andere wiederum bestechen durch ihren Charme, ihre Komik und die liebevollen Beobachtungen kindlichen Umgangs miteinander. Doillon ist bekannt dafür. daß er ein Händchen für Jugendliche und Kinder hat, aber noch nie hat er diese Begabung zu solcher Vollendung gebracht. Wie er seine kleine Hauptdarstellerin dazu bewegen konnte, so zu spielen, wie sie es tut, ist mir ein Rätsel, Tatsache ist jedenfalls, daß sie sensationell gut spielt, oder aber sich perfekt mit ihrer Rolle identifiziert hat, was ich ja bei einem so kleinen Kind nicht annehme. Die sehr lyrischen, schönen, ruhigen Bilder, die stille Poesie, zwischen Trauer und Optimismus schwankend, bestimmen den Ton des Films, der sicherlich der schönste dieses Jahres, und einer der schönsten überhaupt ist, nicht zuletzt durch die absolute Zeitlosigkeit seines Themas. Ganz selten (höchsten bei Sheridan, aber auf ganz anderer Ebene) habe ich in letzter Zeit so bewegt und buchstäblich gerührt im Kino gesessen. Ein Film, wie es ihn nur sehr selten gibt. (2.11.)