"Sue" (#) von Amos Kollek. USA, 1997. Anna Thomson, Matthew Powers, Tahnee Welch, Tracee Ellis Ross

Zum Ausgang des Jahrhunderts haben in Hollywood endgültig und wohl für immer die "Size-matters"-Apologeten und die Remake-"Künstler" (vorzugsweise alte Comic- oder TV-Serien bzw. französische Filme) das Heft in die Hand genommen, alles Abweichende plattgebügelt, nicht nur im eigenen Land, sondern auch gleich noch anderswo, denn wenn sogar in unserer kleinen Stadt die Gozillas und Titanics in (jeweils!) drei bis vier Häusern gleichzeitig ihr Unwesen treiben, bleibt für den Rest schlicht kein Raum übrig. Auch ein Weg, die Konkurrenz auszuschalten: Nicht durch Qualität, sondern allein durch übermächtige Präsenz.

Bei aller Untröstlichkeit von "Sue" ist es also dennoch in höchstem Maße tröstlich und geradezu unglaublich, daß es ihn überhaupt gibt und daß wir ihn darüber hinaus sehen können. Selbst wenn dieser Film nicht so gut wäre, hätten wir trotzdem allen Grund, dankbar dafür zu sein.

Doch er ist gut, sehr gut sogar und im Rahmen des aktuellen Filmschaffens in den USA absolut überragend. Eine Geschichte über Einsamkeit in der Großstadt, die hier New York heißt, winterlich-kalt ist und die Sue keine Chance gibt, etwas Halt in ihrem Leben zu finden. Die Mutter sitzt mit Alzheimer irgendwo in der Provinz im Heim, Freunde und Bekannte hat sie keine, sie wechselt Jobs und Bettgenossen rasch und wahllos, und als sie dann doch zwei Freunde findet, ist es zu spät, können die sie auch nicht mehr auffangen. Apathisch, resigniert, mittellos endet sie auf einer Bank im Central Park. Anderthalb Stunden lang folgt die Kamera Sue auf dem Weg durch die Stadt, bei Nacht, bei Tag, in Parks, Kneipen, in ihrer Wohnung oder der anderer Männer. Sie bewirbt sich verzweifelt um Jobs, versucht, ihren ungeduldigen Vermieter hinzuhalten, und immer und immer mit anderen Menschen ins Gespräch zu kommen. Anders als sie selbst sagt, kommuniziert sie nämlich keineswegs nur durch Sex, sie ist in hohem Maße anlehnungs- und mitteilungsbedürftig und sucht am Ende nur das bißchen Wärme, das sie am leben halten würde. Sie lernt einen Mann kennen, der offenbar mehr sein möchte, als nur ein one-night-stand, doch sein berufliches Engagement ist ihrer Beziehung im Weg, und sie kann nicht mehr warten, ist zu oft verletzt und ausgenutzt worden. Lieber läßt sie sich unverbindlich mit Männern ein, die sie auf der Straße anquatschen, sie sogar für eine Nutte halten. Sex ist ihr überaus wichtig, wie sie einmal sagt, vielleicht weil es ihr für kurze Zeit wenigstens die Illusion von Nähe gibt. Kein optimistischer Film, überhaupt nicht fröhlich, und komisch kann ich ihn auch nicht finden. Was ihn auszeichnet, und ihn zu solch einer Ausnahmeerscheinung im heutigen US-Kino macht, ist seine tiefe Menschlichkeit, seine fast bedrückende Lebensnähe. Hier ist tatsächlich mal ein Film, der etwas über Leben in den Staaten heute aussagt, ohne Banalität, ohne Kitsch oder hippe Posen, woran ja der Großteil des Independent Cinema gescheitert ist. Kollek zeigt seine Sympathie, seine Liebe für diese Sue, und er hat eine Darstellerin, die sich so vollkommen in die Rolle eingibt, daß nicht mal der Anflug von Pathos aufkommt. Ihre Präsenz hält das eher locker strukturierte Drehbuch zusammen, gibt der Aneinanderreihung von Begegnungen Form und Stil, fängt präzise und einfühlsam jede Regung, jede Gefühlsschwankung ein, kurz, sie bringt einem diese Frau so nahe, wie einem selten eine Leinwandfigur kommt. Daß sie aber doch nicht aus dem Rahmen tritt, sondern jederzeit fest im Milieu verankert wird, ist das Verdienst des Regisseurs, der zugleich ein alles andere als glamouröses Manhattan ins Bild bringt (obwohl er keinesfalls in irgendwelchen Ghettos dreht).

 

Alles in allem eine bewegende, beeindruckende Vorstellung, die sich wahrlich tief einprägt, und natürlich gleich den zaghaften Wunsch aufkeimen läßt, daß vielleicht doch mal das eine oder andere Pflänzchen mehr durch den Beton dringen möge. (20.10.)