"23 - Nichts ist so, wie es scheint" von Hans-Christian Schmid. BRD, 1998. August Diehl, Fabian Busch, Dieter Landuris, Jan-Gregor Kemp, Peter Fitz

Karl steht Mitte der 80er ziemlich allein da: Die Mutter tot, die neue Freundin des Vaters als Parasit im Haus, der Vater Redakteur einer konservativen Hannoveraner Zeitung, und Karl selbst als Fotoobjekt bei der Brokdorf-Randale und Teil einer spätrevolutionären Protestszene. Dem Alten wünscht er den Tod - und prompt stirbt der und hinterläßt Karl einen Haufen Geld. Damit hält er eine Weile die Freunde aus und kauft sich einen kleinen Computer. Außerdem lebt er natürlich von Wilson/Sheas "Illuminatus", dem Kultroman grasfressender Säureköpfe jener Zeit. In seinen vernebelten Fantasien bastelt er sich eine gigantische Verschwörungstheorie zurecht, in deren Mittelpunkt die Zahl 23 steht, sowie die Gewißheit, daß die ganze Welt von den geheimnisvollen Illuminaten regiert wird, die für alle politischen Morde und andere Katastrophen verantwortlich sind. Karl wird mit seinem Freund Hacker - und damit geht das Unheil los. Aus harmlosen Publicityspäßchen wird, angefeuert durch einen newsgeilen Journalisten, plötzlich knallharte Spionage von West nach Ost, direkt nach Moskau nämlich. Die beiden Jungs (gerade mal Anfang zwanzig) können die Ereignisse bald nicht mehr kontrollieren, vor allem Karl wühlt sich tief in einen Sumpf aus Drogen, Geldschulden und immer gefährlicheren Hackereien. Er kann zwar zunächst dem Schlimmsten von der Schippe springen, doch sein Geist ist schon zu verwirrt: Mit 23 Jahren begeht er an einem 23. Selbstmord. Das war 1989, und das ist eine wahre Geschichte.

 

Schmid ist mit dem ganzen Herzen dabei, und das merkt man sofort. Musik, Zeitkolorit, Stimmungen, die Einflüsse äußerer Ereignisse wie Brokdorf oder Tschernobyl werden hautnah rübergebracht, und ich selbst konnte dieses Gefühl sofort wieder nachempfinden, damals Mitte der Achtziger, als der Kalte Krieg noch im Gange war, als sich die Bürgerbewegungen immer wieder totliefen im staatlichen Maschendraht und als unheilvolle Meldungen wie Olof Palmes Tod oder eben der ukrainische SuperGau zu einer allgemein beunruhigenden Atmosphäre. Von daher also schon ein äußerst dichter Epochenfilm, der es darüber hinaus schafft, aus dem Gesellschaftspsychogramm eine Einzelbiographie herauszulösen, sie äußerst komplex und eindringlich anzulegen und sie auch noch mit einer spannenden Geschichte zu vermischen. Karls zunehmender Realitätsverlust, sein fehlendes Bewußtsein für Gefahren, seine Flucht in Extreme, werden grandios dargestellt, genau wie seine etwas surreale Umgebung, die unfreiwillig die wüsten Phantasien des Hackers zu bestätigen scheint. Schmid erzählt schon mit Humor und Ironie (plötzlich sieht man überall die 23!), aber Karls Schicksal wird völlig ernst genommen, die Tragödie dahinter bleibt als solche erhalten, egal wie komisch man seine abstrusen Ansichten finden mag. Er ist einfach jemand, der unter all den kleinen und großen Revoluzzern und den kleinen und großen Geschäftemachern und Drahtziehern den Überblick verloren hat, zugleich jeglichen Halt im eigenen Leben, und dessen Verstand ausgerechnet bei einer psychedelischen Satire aussetzt, die er schlicht zu ernst nimmt. August Diehl bietet die beste Schauspierleistung, die ich seit langem in einem deutschen Film gesehen habe, und Schmids Regie hat die angemessene Klasse. Ein in jeder Hinsicht ungewöhnlicher deutscher Film, einer, den man sich bestimmt merken wird. (14.1.)