"Alice & Martin" (#) von André Téchiné. Frankreich/Spanien, 1998. Juliette Binoche, Alexis Loret, Matthieu Amalric, Carmen Maura

Als etwa Zehnjähriger wird Martin (aus unverständlichen Gründen) von der Mutter zum getrennt lebenden Vater geschickt, der ein despotisches Regiment in seiner neuen Familie hält, den neuen Sohn streng und drakonisch züchtigt und zehn Jahre später endlich eine Treppe hinunter fällt und stirbt. Martin läuft aus dem Haus, trampt nach Paris, wo sein Halbbruder zusammen mit Alice, einer Geigerin, lebt. Alice und Martin, zwei Individualisten, finden langsam zueinander, doch erst als sie schwanger wird, brechen die wirklich schwierigen Probleme zutage.

Die Liebesgeschichte zweier Einzelgänger, der eine mit einer sehr belastenden Vergangenheit, die andere introvertiert, verschlossen, und am Ende dennoch bereit, unbedingt für und um ihn zu kämpfen. Martin stellt sich, um öffentlich zuzugeben, daß er es war, der seinen Vater einst zu Tode stürzen ließ, um endlich diesen Alpdruck loszuwerden. Er kommt in die Psychiatrie, doch Alice wird zu ihm halten, seine einzige menschliche Verbindung bleiben.

 

Nach seinen meisterlichen Gruppen- und Familienstudien der letzten fünf, sechs Jahre hat sich Téchiné noch einmal weiter weg entfernt von uns, dem hilflosen Zuschauer, um einen noch spröderen, kargeren Film zu drehen, als er ohnehin am liebsten tut. Seine wilde Entschlossenheit, seinen Figuren auf jeden Fall ihr Eigenleben zu erhalten und weder sich noch seine Geschichte in irgendeiner Weise irgendwo anzubiedern, hat dazu geführt, daß uns Alice und Martin nach mehr als zwei Stunden noch immer Fremde sind, und so faszinierend diese künstlerische Konsequenz vielleicht ist, und so großartig ästhetisch auch dieser neue Film wieder geworden ist, so spürt man doch nur sehr selten eine Nähe, eine Intimität zwischen sich und der Leinwand. Zwar teilt vor allem Martin einiges von sich und seinem Leben mit, doch Alice bleibt uns doch ein Rätsel, eine starke junge Frau mit einer Vorliebe für flüchtige Affären, die aber letztlich doch die Kraft und den Mut aufbringt, zu einer Beziehung fest und ganz zu stehen. Ansonsten darf man sich einmal mehr von Binoches geheimnisvoller Aura betören lassen (und überhaupt froh sein, sie mal wieder im Film sehen zu dürfen), doch stellt sich die Frage, wieviel von ihrer Person am Ende bleiben wird. Martin ist da schon greifbarer, ein früh verstörter Junge, der jäh aus einem von ihm geliebten und genossenen Leben gerissen wird, hinein in eine kalte, harte Welt, und der dort herauskommt als ein Mensch, der an sich und andere keine Ansprüche stellt und seinen Platz im Leben erstmal richtig finden muß. Die Familie als Keimzelle von Haß, Ängsten, eine dichte und dunkle Verflechtung komplexer, verhängnisvoll verwobener Beziehungen - hier besonders kommen Téchinés Stärken als Erzähler und Analytiker zum Vorschein, und seine raschen, schroffen Chronologiebrüche und Schnitte erweisen der zerstörten Innenwelt dieser Familie eindrucksvoll ihre Reverenz. Man kann diesen Film sicherlich sehr mögen, wenn man sich erstmal in ihn hereingefunden hat, was nach dem sprunghaften Start auch nicht ganz einfach ist, man kann die Intensität und Kraft der Bilder und Gefühle bewundern (so wie ich), aber ich finde auch die Reaktion derer nachvollziehbar, die sich befremdet abgewandt haben. Eins ist mehr denn je klar: Téchiné ist kein Mann für das große Massenkino, der hat seine eigene, sperrige Handschrift, mit der man entweder klar kommt oder nicht. (9.2.)