"Idioterne" (Idioten) von Lars von Trier. Dänemark, 1998. Bodel Jorgensen, Jens Albinus, Anne Louise Hassing, Troels Liby, Nikolaj Lie Kaas, Henrik Prip, Luis Mesonero

Der zweite "Dogma"-Film aus Danmark, diesmal vom prominentesten der beteiligten Künstler, und wie "Das Fest" ein Film, der im Bewußtsein haften bleibt, der vielleicht spontan weniger beeindruckt, dafür aber mehr Langzeitwirkung haben könnte, weil er einfach so vielschichtig und doppelbödig angelegt ist. Er könnte ganz vieles sein, ist nichts so richtig und paßt sich in dieser irritierenden und faszinierenden Ungreifbarkeit hervorragend seinem Thema an.

Es könnte um Klamauk gehen: Eine Gruppe jüngerer Menschen zwischen Fünfundzwanzig und Vierzig vielleicht, die in einer Art Wohngemeinschaft ein großes Haus in einer wohlanständigen Gemeinde okkupiert hat, vertreibt sich die Zeit damit, geisteskrank zu spielen und die spießigen Mitbürger gezielt zu provozieren. Logischerweise kommt es zu etlichen grotesken Szenen in Restaurants oder Schwimmbädern, auf der Straße oder in Kneipen.

Es könnte auch um Gesellschaftskritik gehen: Natürlich wird offenbar, daß auch die Toleranz der ansonsten so liberalen Dänen begrenzt ist, vor allem wenn es darum geht, Behinderte und Verhaltensauffällige in direktester Nachbarschaft zu dulden, ihnen sozusagen Auge in Auge gegenüberzustehen.

Es könnte um Selbsterfahrung gehen: Die meisten der Gruppenmitglieder sehen ihr Experiment als eine Chance, sich selbst neu zu erfahren, zu entdecken, den innersten Gefühlen und Trieben neu Ausdruck verleihen, sich freier und ungehemmter ausleben zu können, als im gewohnten beruflichen und familiären Rahmen. Gruppensex und therapeutische Maßnahmen sollen als Mittel zur Befreiung von bürgerlichen Fesseln herhalten.

Es könnte letztlich auch um eine Analyse von Gruppenmechanismen gehen: Die bis dato fast harmonische Balance wird gestört, als einer der Männer sich zum Führer aufschwingt und alle anderen zu krasseren Auftritten zwingen will, um ihre Grenzen auszuloten und auszuweiten. Sein verbissener, humorloser Fanatismus paßt sich zu dem eher friedlich-närrischen Treiben, die Atmosphäre wird giftig, aggressiv, und schließlich sprengt sich die Gruppe, treibt auseinander. Auf der Strecke bleibt eine junge Frau, die eher zufällig dazugekommen war, die einzige, die das ganze nicht als bloßen Spaß betrachtet, sondern wirkliche Geborgenheit und Freundschaft gefunden hat und somit von der Auflösung der Gruppe am schmerzlichsten betroffen ist. In der letzten, bitteren und in ihrer Intensität fast brutalen Szene kehrt sie zu ihrer Familie zurück und wir erfahren den Hintergrund ihres Tuns: Sie hat vor kurzem ihr kleines Kind verloren und war unfähig, zur Beerdigung zu gehen oder Kontakt zu ihrem Mann aufzunehmen. Und nun schlägt ihr zuhause eisige Kälte entgegen, man süffelt Kaffee mampft Kuchen und schweigt sich verbissen an - ein Alptraum von einem Familienleben.

 

Von Trier mixt all diese Elemente zu einem komplexen, unruhigen, launischen Ganzen. Es gibt wilde polemische Ausfälle, deftige Szenen, die Sittenwächter klar als Pornographie bezeichnen würden, wüste Slapsticks und immer wieder Momente plötzlicher Ruhe und Eindringlichkeit, die uns dann umso direkter treffen. Je deutlicher von Trier herausstellt, daß hinter dem scheinbar ausgelassen Narrentreiben doch ein ernsterer Kern steckt, desto stärker beeinflußt er auch unsere Sichtweise und unser Urteil. Was zu Beginn als eine fröhliche Anarchistentruppe mit sozialem Anliegen durchgehen könnte, sieht zum Schluß aus wie ein Bündel ungut und zu dicht miteinander verknüpfter Menschen, die sich zu nah gekommen sind und sich zugleich zu weit vom Ausgangspunkt entfernt haben. Das wird von allen Beteiligten grandios gut gespielt, oft scheinbar improvisiert, doch mit beeindruckender Nuancenvielfalt und präzisem Blick aufs Detail. Dem Dogma entsprechend handelt es sich zudem um ein rohes Stück Film, das sich bewußt nicht anbiedert, sondern nackt und unbehauen wirkt - die Handkamera und der Verzicht auf künstliche Ausleuchtung sind bereits bekannt - und nur die tollen Darsteller und die Hintergründigkeit des Drehbuchs verraten einem, daß es sich hier um ein durchkalkuliertes und höchst ambitioniertes Werk handelt. Natürlich sollte man Dogmen, zumal künstlerischen, immer mißtrauisch gegenüberstehen, aber wenn die Dänen ihren Humor, ihre Selbstkritik, ihre überragende Inspiration und ihre Spontaneität nicht wesentlich einbüßen, können sie vor mir aus noch zwanzig Dogmen niederschreiben. (27.4.)