"Nachtgestalten" von Andreas Dresen. BRD, 1999. Meriam Abbas, Dominique Horwitz, Michael Gwisdek, Oliver Bäßler, Susanne Bormann, Ricardo Valentin, Imogen Kogge, Horst Krause

Eine regnerische Nacht in Berlin: Der Papst ist in der Stadt, aber auch sonst ist so einiges unterwegs: Hanna und Victor sind obdachlos, und als sie plötzlich hundert Mark in ihrem Hut findet, wollen die beiden mal so richtig schick im Hotel übernachten. Was aber als rauschender Abend geplant war, schlittert immer wieder in die Katastrophe. Peschke will eine Geschäftsfrau vom Flughafen abholen, bleibt aber plötzlich auf einem kleinen Jungen aus Angola hängen. Den will er eigentlich nur mal kurz nach Haus bringen, aber es kommt natürlich anders. Am Schluß steht er ohne Auto da und seine berufliche Zukunft ist auch wackelig. Jochen kommt vom Land aus Neuruppin frisch und unbedarft in die Stadt, im Geldbeutel dicke blaue Scheine, und will man so richtig was erleben. Er landet bei Patty, einem minderjährigen Junkie, die ihr Geld auf dem Strich verdient, und das rührend naive und gutherzige Landei nach Strich und Faden ausnimmt. Eine Punkertruppe streift durch die Straßen auf der Suche nach Opfern, reißt sich Peschkes BMW unter den Nagel, kutschiert zur Küste und fackelt die Karre schließlich auf Usedom ab. Der neue Tag hat längst begonnen.

 

Ein absolut herausragender deutscher Film, nicht nur, weil man hierzulande ja schon mit so wenig zufrieden ist, sondern, weil er wirklich gut ist. Mit Geschick, Humor und einem ziemlich klaren Blick auf die Realität entwickelt Dresen ein Großstadtpuzzle im klassischen Sinn, läßt die Wege der Hauptpersonen immer mal wieder streifen oder kreuzen und balanciert souverän zwischen komischen, bitteren, melancholischen, traurigen und drastischen Augenblicken.  Die ganze Bandbreite eines Lebens, das sich nicht gerade in schicken Appartements oder auf angesagten Szenetreffs zuträgt, sondern im Abseits, buchstäblich im Untergrund, oder das durch Blicke von außen auf besondere Art beleuchtet wird. Jochens Blick ist staunend, gutgläubig und von gänzlich anderen Idealen besetzt. Entsetzt will er Patty aus ihrem tristen Dasein aufs Land retten, um dort zwischen Kühen und Schweinen einen besseren Menschen aus ihr zu machen, doch sie ist durch ihre sicherlich sehr finsteren Erfahrungen bereits so abgebrüht und abgestumpft, daß sie nur auf sein Geld aus ist, das ihr den nächsten Schuß sichert. Hanna und Victor führen eine explosive Existenz hart am Rande der Selbstzerstörung. Während er demütig und beschwichtigend alle Schikanen über sich ergehen läßt, spürt sie jede Erniedrigung besonders intensiv und steigert sich in haßerfüllte Wutausbrüche, die den beiden nur Ärger einbringen. Immerhin finden sie ein Zimmer und ein Bett, in dem sie sich mal wieder lieben können. Peschke repräsentiert den arrivierten Durchschnittsbürger, einen mittelmäßig erfolgreichen älteren Herrn, der es nie bis ganz nach oben geschafft und sich stattdessen zwischen Spießerdünkel, dem ganz normalen Rassismus und einer nicht totzukriegenden Gutmütigkeit eingerichtet hat, denn obgleich er immer auf den Negerjungen schimpft, läßt er ihn nicht allein, bis er ihn sicher untergebracht weiß, wobei zwischendurch ganz zarte Vatergefühle in ihm, dem terminbepackten und diensteifrigen Junggesellen, hochzukommen scheinen. Dresen ist sehr sorgsam darauf bedacht, jede seiner Figuren komplex und klischeefrei zu schildern, vor allem aber mit Liebe und Anteilnahme. Obgleich er versöhnliche oder bequeme Ausgänge konsequent vermeidet, fast jede Episode mehr oder weniger offen enden läßt, ist seine Perspektive niemals kalt oder gleichgültig. Gerade dieses Engagement zeichnet den Film bei allem Realismus aus, die Nähe zu den Menschen, die er mit Handkamera verfolgt und niemals für längere Zeit aus den Augen läßt. Fasziniert und bewegt folgt man ihren Geschichten, ständig im Wechsel zwischen Lachen und Mit-Leid, und auf jeden Fall gefesselt durch großartige Darsteller und einer Milieuzeichnung, die endlich mal wieder etwas mit dem heutigen Leben zu tun hat. Einer der wenigen wirklichen und wichtigen deutschen Gegenwartsfilme der letzten Jahre. (19.8.)