"Günese yolculuk" (Reise zur Sonne) von Yesim Ustaoglu. Türkei, 1998. Newroz Baz, Nazmi Qirix, Mizgin Kapazan, Ara Güler

Mehmet kommt vom Land, aus der Gegend von Izmir, in die Stadt am Bosporus, haust mit einer Handvoll anderer Männer in einer Art Höhle und verdient sich im Kanalisationswesen. Berzan ist Kurde, kommt auch vom Land, von der türkisch-irakischen Grenze, in die Stadt am Bosporus und steht mit einem Bauchladen voller Musikkassetten an der großen Brücke. Mehmet hat ein Mädchen und kriegt Ärger mit der Polizei, weil ein anderer Mann neben ihm im Bus eine Tasche mit einer Pistole liegengelassen hat. Mehmet wird verdroschen und dann freigelassen, aber er kann nirgends hin, weil ihn überall rote Kreuze an den Wänden und Türen verfolgen. Berzan muß auch untertauchen. Erst verdingt er sich noch bei einem Busunternehmen, dann kriegt ihn die Polizei, als er die Stadt verlassen will. Dann ist er tot - Gehirnblutung, wie es bei der Gerichtsmedizin heißt. Mehmet schnappt sich den Leichnam, packt den Sarg in ein Auto und fährt gen Osten. Irgendwann kommt er in Berzans Heimatdorf an und läßt den Sarg auf dem Wasser davonschwimmen.

Eigentlich gibt es Berzans Heimatdorf gar nicht mehr, nur noch zerschossene Ruinen, die in einer zerpflügten, aufgewühlten, verwüsteten Mondlandschaft stehen. Das ganze Land dort hinten sieht so aus, überall zerstörte Häuser, leere Räume und ab und zu Militär auf den Wegen oder in Panzern. Mehmets Reise wird für ihn zur Entdeckung einer neuen Welt, einer Welt, von deren Existenz er nichts ahnte, nicht einmal die Fernsehberichterstattungen von Demos, Hungerstreiks oder Straßenschlachten zwischen Kurden und Soldaten ließen ihn wo etwas ähnlichem auch nur träumen. Und wie hätte er sich so was auch träumen lassen können, wo er doch vom Land kommt, und zwar weiß, daß es Ärger mit den Kurden gibt, aber keinen blassen Schimmer hat, was das Militär ein paar tausend Kilometer weiter östlich anrichtet.

 

Kein Film der großen Worte, aber dennoch ein ganz großer Film, der bewegt, trifft, nicht so rasch losläßt. Die Istanbulszenen sind lebhaft, temporeich und packend. Sie zeigen Leben in der Großstadt, wie es von unten betrachtet ausschaut, den Alltag der Unterprivilegierten, derjenigen, die sich tagtäglich durchschlagen müssen und wie schnell sie plötzlich am Abgrund stehen können in all ihrer Unschuld. Sie zeigen das Leben in einer Militärdiktatur, der sich niemand entziehen kann, die Schuldigen nicht, nicht die Verfolgten, die Fanatiker oder die vermeintlich Außenstehenden, die früher oder später erkennen müssen, daß es kein Außenstehen geben kann. Berzan weiß das natürlich, denn er steht auf Seiten der Verfolgten. Sein Vater ist tot, ermordet, und dort, wo er herstammt, kann er nicht bleiben. Er taucht in Istanbul unter, muß aber stets befürchten, aufgegriffen zu werden. Menschenwürde gibt es nicht, Gerechtigkeit auch nicht und niemand garantiert für dein Leben, wenn du erst mal im Verhörraum sitzt. Mehmet sieht sich mit Gewalten konfrontiert, von deren Ausmaß er nichts wissen konnte. Wie ein Strom reißt es ihn mit und schwemmt ihn schließlich aus der Stadt heraus. Die Reise in die Fremde wird von zunehmender Sprachlosigkeit begleitet. Je länger sie dauert, desto weniger gibt es zu sagen, weil Worte nicht mehr nötig sind und sowieso versagen würden, nicht erklären könnten, was dort zu sehen ist. Für meinen Geschmack hätte diese Reise im Vergleich zu den Stadtszenen mehr quantitatives Gewicht haben und länger dauern können, doch dieses kleine Ungleichgewicht stört den Gesamteindruck nur unwesentlich. Dieser Film ist auf ganzer Linie beeindruckend, in der Inszenierung, der Darstellung, der Fotografie. Er zeigt erschreckende Bilder aus einem Land, das geografisch weit weg, uns jedoch aus vielerlei Gründen recht nah ist. (23.8.)