"The Straight Story" (#) von David Lynch. USA, 1998. Richard Farnsworth, Sissy Spacek, Harry Dean Stanton, Everett McGill
Die wahre Geschichte vom 78jährigen Alvin Straight irgendwo aus Iowa, der, als er fährt, daß sein Bruder einen Schlaganfall hatte, sich auf den Weg zu ihm macht, obwohl oder gerade weil er ihn seit ewiger Zeit nicht gesehen und nicht gesprochen und sich zuletzt mit ihm verzankt hat. Nun wohnt aber sein Bruder nicht gerade um die Ecke, sondern einige hundert Meilen westlich in Wisconsin, und Alvin hat auch kein Flugzeug und nicht mal ein flottes Auto, sondern nur einen Rasenmäher, der genauso altersschwach ist wie er selbst. Kein Wunder, daß diese Reise Wochen in Anspruch nimmt, ehe Alvin ans Ziel kommt. Doch: Er kommt immerhin ans Ziel.
Manchmal ist es schön und sehr befriedigend, wenn ein Regisseur etablierte Erwartungen erfüllt. Und manchmal ist es genauso schön, wenn ein Regisseur zu neuen Ufern aufbricht. David Lynch hat genau dies getan, und es ist: Schön! Bislang war sein bizarres Universum erfüllt von klebrigen Mutanten, Elefantenmenschen, abgeschnittenen Ohren, abgrundtiefen Kleinstädten, irren Killern, verrückten Liebespärchen oder merkwürdigen Schizos. All dies fehlt hier, es gibt nichts als die reine, einfache, klare Geschichte, keine Doppeldeutigkeiten, keine Kamerafahrten, die plötzlich unter der Grasnarbe, direkt am Nerv des Grauens enden, keinen schleichenden Horror, der umso beunruhigender ist, als man ihn eigentlich nicht recht begreifen kann. Lynch erzählt aber nicht nur eine einfache, wahre Geschichte, sondern er tut noch etwas anderes, für meinen Geschmack viel wertvolleres: Er öffnet uns die Augen und das Herz für das Land, er gibt es uns praktisch wieder, und er gibt uns die Menschen wieder, die dort leben, im Weizengürtel, im Mittelwesten, dort, wo nicht das schnelle, geile, laute, brutale Leben gelebt wird, sondern ein ganz anderes, das aber nicht weniger elementar oder faszinierend ist, im Gegenteil. Er erinnert uns indirekt auch daran, wie entwurzelt und entfremdet das moderne Hollywoodkino ist, weil es in einem beliebigen Niemandsland siedelt und rein gar nichts mit dem Land zu tun hat, wo es entsteht. Auf Hochglanz gestylt, von Computern animiert und ferngesteuert könnten die meisten dieser kommerziellen Machwerke in irgendeinem Land unter irgendwelchen Menschen spielen - diese Universalität verkauft sich gut und ist im Prinzip ja auch nicht so schlecht, aber hin und wieder sehnt man sich als Kinogänger mal wieder nach einem Milieufilm, so wie man ihn aus Europa jederzeit gewohnt ist. Lynch hat das hingekriegt, einen literarischen Film dazu, der viel Atmosphäre, Schönheit und Liebe ausstrahlt, der eine meditative Ruhe transportiert, eine Rückbesinnung auf ganz ursprüngliche Dinge wie Familie, Liebe unter Brüdern und die großen und kleinen Tragödien, die sich in diesem engen Raum abspielen. Alvin trifft im Laufe seiner Odyssee auf einige Menschen, die ihm sämtlich freundlich begegnen, so wie er zu ihnen freundlich ist. Er erzählt von früher, von einem schlimmen Erlebnis aus dem Krieg, von sich und seinem Bruder oder seiner geistig leicht behinderten Tochter, ein Mann, der in sich ruht, den aber der unbedingte Wunsch nach Aussöhnung und Aussprache vorantreibt. Einem Priester erklärt er dies einmal im Vergleich zu Kain und Abel - zwei Brüder, die sich ständig aneinander reiben, die letztlich aber so eng miteinander verbunden sind, daß sie ohne den anderen nicht existieren könnten. Daß Lynch all dies ohne einen Anflug von Kitsch zeigen kann, spricht für keine Kunst als Erzähler und Gestalter. Wobei sich letztgenannter sehr zurückhält. Angelo Badalamentis himmlische Sphärenmusik ist da und die Kamera von Freddie Francis - ist das wirklich der Freddie Francis, der gut über achtzig ist? Wie hat Lynch den bloß hinter die Kamera gekriegt? Egal, jedenfalls leisten die alten Männer hier ganze Arbeit, denn auch Richard Farnsworth ist großartig in der Rolle des Alvin Straight, er vermittelt viel Gefühl ohne großen Aufwand und vor allem ohne Übertreibungen. Alles in allem ein durch und durch wohltuender Film, wohltuend in seiner Natürlichkeit, in seiner Langsamkeit, seiner Schönheit, seiner Wärme. Wenn der US-Film eine künstlerische Zukunft hat, dann sicherlich eher in solchen Filmen als in den gestylten Hightechorgien. Warum? Weil hier sicht- und spürbar Menschen am Werk sind und keine Maschinen. (22.12.)