„Billy Elliot“ (#) von Stephen Daldry. England, 2000. Jamie Bell, Julie Walters, Gary Lewis, Jamie Draven, Jean Heywood, Stuart Wells

Mitten im englischen Kohlerevier, im County Durham, anno 1984: Die eiserne Lady hat das Land fest im Würgegriff, die Kumpel streiken für ein paar Pennies mehr und müssen sich dafür anhören, sie seien der Pickel am Arsch des ganzen Landes, eine Schande sowieso und außerdem alles Kommunisten. Streikbrecher lassen sich Morgen für Morgen mit Eiern beschmeißen und es gibt wohl keine Familie in der ganzen Gegend, die nicht irgendwie betroffen wäre. Also auch die Elliots: Papa streikt, Sohn Tony streikt, die Mama ist seit drei Jahren tot, die Oma ein bisserl durch die Schüssel und der jüngste, Billy, soll nun die Boxhandschuhe aus drei Generationen echter harter Kerle überstreifen. Er interessiert sich aber viel eher für die zarten Spitzentänzchen der Ballettmiezen von nebenan und plötzlich hat Papa Elliot, ein wortkarger, kerniger, aber eigentlich ganz gutmütiger Malocher, ein echtes Problem: Sein Sohn im Ballett? Eine Schwuchtel womöglich? Ein verweichlichter Taugenichts mitten unter ehrlichen Bergarbeitern? Es kommt natürlich zu einigem Streit, und wenn Billy in seiner Lehrerin Mrs. Wilkinson nicht eine ebenso enthusiastische wie patente und energische Fürsprecherin hätte, wäre es wohl nie so weit gekommen, daß der segelohrige Bursche aus dem armen Norden an der Royal Ballet School im versnobten London und später auf dem großen Theaterbühnen Englands gelandet wäre.

 

Ein echtes Erfolgsmärchen also, die Geschichte vom kleinen Jungen ganz von unten, aus den rußigsten Niederungen des Königreiches, der es schafft, die Gesetze der Schwerkraft zu überwinden. Wenn er tanzt, fliegt er, fühlt er sich wie Feuer, wie Elektrizität. Das jedenfalls erklärt er einer etwas konsternierten Dame in London (Barbara Leigh-Hunt übrigens, die immer noch genauso guckt, wie beim Krawattenmord in „Frenzy“), und wenn wir ihn zwischen rotem Backstein, knüppelnden Bullen, schwarzen Kohlehalden oder einfach in seinem Zimmer wirbeln, steppen, hüpfen, japsen sehen, möchten wir es glauben. Es ist weniger sein starker Wille, der ihm hilft, all die Hindernisse beiseite zu räumen, als vielmehr sein bedingungsloses, völliges Aufgehen in der Musik, im Tanz, im Rausch der Bewegung. Der Regisseur hat immer wieder schöne Szenen gefunden, um uns dieses Gefühl nahezubringen, und er hat es geschafft. Es ist überhaupt ein Film der großen Gefühle, ein Film so richtig für’s Gemüt, komisch, traurig, zärtlich, mal echt britischer Milieufilm mit Arbeitskampf, der ganzen Verzweiflung der Arbeiter und der finalen Kapitulation der Gewerkschaften, die all die fürchterlichen Opfer und Anstrengungen verhöhnt, mal Tanz- und Musikfilm mit hinreißenden T.Rex-Songs, später dann The Clash und sogar Tschaikowski und mal ein Liebesfilm mit einem schwulen Nachbarsjungen, einem wißbegierigen kleinen Mädchen, dem rauhbeinigen Bruder („Tony, denkst du oft über den Tod nach?“ – „Fresse halten!“) und dem störrischen Vater, die doch am Ende alle irgendwie zueinander finden und sich doch ihre Liebe eingestehen können. Das handfest-realistische und das träumerisch-märchenhafte stehen gleichberechtigt nebeneinander, und das stört wirklich niemanden, denn alles wird mit unwiderstehlichem Schwung und Charme vorgetragen, wundervoll gespielt und fotografiert und trotz des für meinen Geschmack doch etwas zu kitschigen und eher überflüssigen Abschlusses jederzeit echt und intensiv im Ausdruck, aufrichtig im Gefühl und im Tonfall. Es gibt genug herausragende Filme in dieser Tradition: „Brassed off“ etwa oder „Ganz oder gar nicht“, wo die Underdogs des englischen Systems, alle natürlich aus dem Norden, es schaffen, sich gegen ihr Schicksal aufzulehnen, nicht mit Wut und Gewalt, sondern mit Phantasie und dem absoluten Glauben an ihre Sache. Wem das alles irgendwie zu platt oder unrealistisch ist, der sollte besser wegbleiben, alle anderen können sich auch diesmal an den typisch britischen Tugenden erfreuen, vor allem an der tiefen Menschlichkeit und Aufrichtigkeit im Engagement und der Anteilnahme für diese Leute hier, und das macht den Film letztlich auch aus. (5.12.)