„Dancer in the Dark“ (#) von Lars von Trier. Schweden/Dänemark/Frankreich, 2000. Björk, Catherine Deneuve, David Morse, Peter Stormare, Cara Seymour, Vincent Paterson, Joel Grey

Wenn Lars von Trier ein Musical macht, darf man sich auch als mißtrauischer, weil mit zuviel Hollywoodsülze zugemüllter Filmgänger einigermaßen sicher sein, daß nichts dabei herauskommt, was auch nur halbwegs an herkömmliche Machwerke erinnern könnte. Wenn dann auch noch Björk die Musik und die Hauptrolle gestaltet und das Ganze in ein beinhartes Melodrama bis hin zur quälend detailliert vollzogenen Todesstrafe mündet, wird jedem klar sein, daß der Begriff des Musicals hier allerhöchstens zur groben Orientierung herangezogen werden könnte.

Klar ist allerdings, daß die Story an sich starker Tobak ist und in den Händen fast jedes anderen Regisseurs zum unerträglichen Rührstück geraten wäre: Eine tschechische Immigrantin tut alles, um ihrem halbwüchsigen Sohn das Familienschicksal, nämlich das langsame Dahingleiten in völlige Blindheit, zu ersparen. Sie selbst ist nicht mehr zu retten, und in ihrer zunehmenden Hilflosigkeit kann sie das Verhängnis nicht aufhalten: Sie verliert ihren Job, und der Mann, auf dessen Grundstück sie wohnt und dem sie vertraute, will sich ihr Geld aneignen, worauf es zum Kampf kommt und er auf sehr gewaltsame Weise, jedoch ohne ihren Willen, zu Tode kommt. Die amerikanische Rechtsprechung hält für solche Fälle (zumal sie ja aus dem Osten kommt und folglich eine Kommunistin sein muß) gottlob die Todesstrafe parat, und da Selma jeglichen Rettungsversuch, der auf Kosten ihres Sohnes stattfinden müßte, vehement ablehnt, endet sie am Strick.

Und wo soll da das Musical sein? Immer dann, wenn Selma sich aus der zunehmend bedrohlichen, ausweglosen, deprimierenden Gegenwart hinwegträumt ins Reich der Musik, der Fantasie. Es fängt an mit den Rhythmen der Fabrikmaschinen und endet im Hinrichtungsraum mit ihrem letzten, eigentlich aber vorletzten Song. Immer dann kommt Robby Müllers bleichgesichtige Wackelkamera zur Ruhe, alles erblüht in bunten Farben, die Menschen tanzen, lachen, und Selma ist mitten unter ihnen, ist für ein paar Minuten das tanzende Mädchen, der fröhliche Star in der Menge. Nicht nur hier ist Selma das verletzliche, naive, wehrlose kleine Mädchen, seiner Umwelt ausgeliefert, noch von einigen guten Freunden beschützt, schließlich aber niedergewalzt von einem Schicksal, das zu mächtig ist für sie. Nur in einem Punkt bleibt sie stark und unerbittlich: Ihr Sohn muß vor dem dreizehnten Jahr operiert werden, damit wenigstens er einmal seine Kinder und Ekel wird sehen können. Diesem Ziel opfert sie alles, letztlich auch ihr eigenes Leben. Wem dies zu dick aufgetragen ist, und wer nervöse Kamerabewegungen, hektisches Geschneide und wenig Glamour was Farben und Dekors angeht grundsätzlich ablehnt, wird das Kino binnen kurzer Zeit verlassen. Doch die anfangs noch verbreiteten, etwas verständnislosen Lacher verstummten doch irgendwann, und zum Schluß konnte wohl keiner mehr von sich behaupten, nicht zutiefst bewegt gewesen zu sein, bewegt von der schieren Wucht dieser Geschichte, bewegt von der grandiosen Björk, die ihre Rolle tatsächlich so dermaßen intensiv auslebt, als hätte sie nie was anderes getan, verstört von der gräßlichen Unausweichlichkeit, die nicht vor dem Schlimmsten haltmacht und der armen Selma ebenso wie dem heftig mitleidenden Zuschauer wirklich keinen Schicksalsschlag erspart. Dabei erweist von Trier dem traditionellen Musical durchaus seine Reverenz: Die Choreografien erinnern an vieles, was man schon gesehen hat, die Besetzung Catherine Deneuves könnte als Hommage an Jacques Demys wunderbare Gesangsfilme gelten, die Besetzung Joel Greys wiederum erinnert unweigerlich an „Cabaret“, und auch sonst zitiert er natürlich schon die Stereotypen des Melodramas und des Immigrantendramas in ländlich-schwerfällig-reaktionärer Umgebung. Die wüsten Plädoyers des Anklägers und die fast schon an Kieslowski gemahnende Ausführlichkeit bei der Darstellung der Hinrichtung Selmas lassen außerdem deutliche Kritik am Rechts- und Gesellschaftssystem der USA erkennen, eine Kritik, die durch das vermeintlich gewählte Genre nur sehr vordergründig gemildert oder banalisiert worden zu sein scheint. Gerade die Schnitte zwischen Selmas Zerbrechlichkeit und Unschuld, ihren kunterbunten, friedlichen Träumen und dem schrecklichen Geschehen, der Mitleidlosigkeit des staatlichen Apparates, sind fast brutal und tun wirklich weh und haben natürlich nichts mit Kitsch oder Verklärung zu tun. Der Unterschied zu von Triers vorherigem Film, dem harten Brocken „Idioten“, wirkt auf den ersten Blick erheblich, doch in Wahrheit tragen beide Filme ganz klar die Handschrift ihres Regisseurs, der bei allem Dogma oder ähnlichem ein freier Geist ist, ein brillanter Geschichtenerzähler, einer mit unerhörtem Gefühl für Menschen und Schauspieler, schlicht einer, bei dem man sich auf jeden neuen Film freut. Wer sich dabei, wie es ja mittlerweile immer mehr tun, endlos an diesem blöden Dogma reibt und daran herumkrittelt, ist dumm, weil er sich selbst den Blick auf die eigentlichen Filme verstellt und vor allem eine Menge versäumt. Es gibt nicht viele Leute, die solche Filme machen, und drauf kommt es an. (2.10.)