"Ça commence aujourd'hui" (Es beginnt heute) von Bertrand Tavernier. Frankreich, 1999. Philippe Torreton, Mana Pitarresi, Nadia Kaci, Didier Bézace

Keine richtige Geschichte erzählt Tavernier, sondern er läßt uns teilhaben am Ausschnitt aus dem Leben Daniels, eines Lehrers an einer Vorschule im nordfranzösischen Industriegebiet bei Valenciennes, dort, wo die Abraumhalden seit langem leer sind, die Arbeitslosigkeit die dreißig Prozent weit überschritten hat und den zuständigen Behörden nichts einfällt, als sich an ihren Bestimmungen und Gesetzen festzuklammern. Daniel und seine Kolleginnen aber können sich nicht in ihre angenehm entlegenen Büros retten, sie stehen jeden einzelnen Tag mitten drin im Elend, erleben jeden einzelnen Tag, was es für die Kinder bedeutet, Opfer einer Situation zu sein, der sie schutzlos ausgeliefert sind. Ihre Eltern haben keine Arbeit, kein Geld, keine Hoffnung. Sie trinken, bis man ihnen die Strom abdreht, trinken, bis nur noch Geld für Brot und Milch da ist, trinken, bis sie ihre Kinder grün und blau schlagen, ein Mutter trinkt schließlich so lange, bis sie sich und ihre beiden Kinder mit Schlaftabletten vergiftet. Daniel durchleidet all diese furchtbaren Tragödien, er erlebt das tägliche Wechselbad zwischen Hoffnung und Depression, zwischen Zerstörung, Ohnmacht im Umgang mit den oft verstörten, verzweifelten, beschämten entwürdigten Eltern, Wut im Umgang mit den schwerfälligen, ignoranten Beamten und der Dankbarkeit über die eine Beamtin, die aus der Reihe tanzt und wirklich hilft. Tavernier braucht nicht viel mehr zu tun, als einfach nur dabei zu sein, einfach nur zu filmen, was geschieht, möglichst eng dran am Geschehen, dennoch mit Respekt und Diskretion, gerade so, um uns Zuschauer in jeder Minute mit leiden und mit hoffen zu lassen. Diese Bilder benötigen keine Kommentare, kein zusätzlichen Worte, keine großen Besten der Betroffenheit, keine unnötigen Pamphlete, sie sprechen für sich und für die ganze Gesellschaft (nicht nur die französische natürlich), sie sind universal, zeitlos und treffen nicht nur diejenigen ins Mark, die selbst Kinder haben. Auf der einen Seite handelt es sich also um eine Sozialreportage, auf der anderen um das Porträt eines wahrhaftigen, modernen Sisyphos, der ungeachtet aller Rückschläge und Bitternisse nicht müde wird, den Stein immer wieder bergauf zu rollen, der zwar zwischendrin immer mal aufgeben will, aber durch sich selbst oder andere stets daran erinnert wird, daß es nur dies eine für ihn zu tun gibt, nämlich niemals aufzuhören, den Stein zu rollen, sich über jedes Lächeln, jedes Glück, jeden kleinen Erfolg zu freuen und doch zu hoffen, daß man irgendwann einmal über den Berg kommen möge. Die schier unerschöpfliche Energie, mit der er diese Mission Tag für Tag angeht, ist beeindruckend, ebenso wie Taverniers Mut, auf jede kommerzielle Gefälligkeit zu verzichten, auf jede Straffung oder Dramatisierung und vor allem auf den Drang, Probleme auf der Leinwand lösen zu wollen. Anders als Hollywoodschinken verweigert sich dieser Film konsequent jeglicher konkreter Lösung, er sagt nur, daß es weitergehen muß, aber nicht, daß Daniel eines Tages die Verhältnisse besiegen wird, denn dies, so weiß man, wen man realistisch denkt, wird niemals eintreten. Er kann da sein für die Kinder, kann lindern, trösten, streicheln, zärtliche Dinge sagen, kann den Amtsschimmeln die Türen einrennen, kann sich aufreiben bis zuletzt, aber die Dinge im Ganzen ändern kann er nicht. Eine der vielen Stärken dieses großartigen und eindrucksvollen Films liegt eben in der Klarheit, mit der uns dies gesagt wird, und darin, daß uns diese Klarheit nicht in Depressionen stürzt, sondern daß wir sie als bittere, aber unabänderliche Wahrheit akzeptieren, innerhalb derer man höchstens versuchen kann, die Dinge so erträglich wie möglich zu gestalten. Eigentlich ein Film eher in der englischen Tradition - umso schöner, daß die Franzosen auch mal wieder sowas hingekriegt haben. (9.3.)