"Karakter" (#) von Mike van Diem. Holland, 1997. Fedja van Huet, Jan Decleir, Betty Schuurman, Victor Löw, Tamar van den Dop

Im großen Hafen von Rotterdam wird der Gerichtsvollzieher Dreverhaven tot aufgefunden. Die Polizei verdächtigt seinen unehelichen Sohn, den frischgebackenen Anwalt Katadreuffe. Der erzählt den Beamten die ganze Geschichte: Wie Dreverhafen zu Beginn des Jahrhunderts seine Haushälterin Joba schwängert, wie sie ihn verläßt und fortan in Elendsvierteln hausen wird, wie er Zeit seines Lebens versucht, sie zu heiraten, wie er andererseits grausam und unmenschlich gegen die vielen armen, zahlungsunfähigen Mieter vorgeht, ganze Familien auf die Straße und ins Elend wirft, wie sich der Junge von Anfang an durchkämpfen mußte, zuerst gegen die Anfeindungen der Mitschüler, dann gegen die tägliche Armut, dann gegen die Arbeitslosigkeit und immer wieder gegen die unnachgiebige Härte seines Vaters, an den er immer wieder schicksalshaft gebunden ist, vor allem dann, wenn er sich mal wieder Geld leiht. Mit verbissenem, töricht blinden, masochistischen Stolz verfolgt er eine Karriere als Jurist, verprellt eine Frau, die ihn liebt, riskiert immer wieder seine Existenz und hat am Ende erreicht, was er anstrebte. Die letzte Begegnung mit seinem Vater endet in einer wilden Schlägerei zwischen den beiden, doch es stellt sich heraus, daß Dreverhaven letztlich doch Selbstmord begeht.

Ein beeindruckend intensiver, atmosphärisch fabelhaft dicht gestalteter Film, der zwei Stunden lang bewegend, spannend und tiefgründig die Geschichte einer furchtbaren Haßliebe erzählt. Auf der einen Seite Dreverhaven: Ein Tyrann, ein Sadist, ein gnadenloser Verfechter von Gesetz und Ordnung, ein Mann, der sich nimmt, was er haben will. Aber auch ein einsamer Mann, dem allerorten nur Haß oder Angst entgegenschlägt, und der schließlich genau daran zerbricht. Immer häufiger fordert er die Menschen geradezu heraus, ihn zu verprügeln, ihm Schmerzen zuzufügen, immer wieder setzt er sich absichtlich lebensgefährlichen Situationen aus, fordert er das Schicksal. Zweifellos liebt er seinen Sohn, doch verbietet er sich jegliche Gefühle, verleugnet ihn, demütigt ihn, zeigt ihm, wer die Macht hat, alles nur, wie man glauben könnte, um ihn hart zu machen für das Leben. Am Schluß beschuldigt ihn sein Sohn, stets nur gegen ihn gearbeitet zu haben. Dreverhaven entgegnet: Oder für dich! Diese Ambivalenz bleibt, sie bleibt auch in unserer Einschätzung der Personen und sie macht den Film so faszinierend. Katadreuffe auf der anderen Seite kämpft sich buchstäblich aus der Gosse empor zum angesehenen Anwalt mit silberglänzendem Türschild am Haus der noblen Kanzlei. Und tatsächlich ist es vor allem sein Vater und nicht die erstarrte, fast autistisch sprachlose Mutter, der immer und immer seinen verbissenen Kampfgeist weckt, die Entschlossenheit, niemals und unter keinen Umständen aufzugeben. Er opfert seinem Ziel alles andere, verpaßt buchstäblich die große Liebe und bereut seine Versäumnisse bitter, so wie sein Vater seine Einsamkeit erleidet. Es bleibt die nicht zu beantwortende Frage, inwieweit Katadreuffes Schicksal gelenkt ist und inwieweit er selbst darüber entschieden hat. Im Hintergrund steht jedenfalls immer der übermächtige Vater und zieht die Fäden.

 

Dies alles ist darstellerisch und filmisch bemerkenswert gestaltet. Es gibt überhaupt keinen Leerlauf, und obwohl der Regisseur durchaus auch die großen Emotionen aus der Kiste kramt, wirkt der Film nie platt, überladen oder hohl. Die Bilder, die Farben, die Milieuskizzen sind bestens aufeinander abgestimmt und vermitteln über die Vater-Sohn-Geschichte hinaus ein komplexes, aufregendes Zeitbild: Der dauernde Konflikt der Armen gegen die rigorose, willkürliche und alles unterdrückende Staatsgewalt, der ewige Kampf gegen Arbeitslosigkeit, Zwangsräumung, Pfändung und dergleichen, das Aufkommen kommunistischer Gruppierungen undsoweiter. Kurz, ein Film, der auf der ganzen Linie funktioniert und der mir sehr viel lieber ist als all die lustig skurrilen, aber letztlich eher belanglosen Geschichtchen, die man sonst so aus Holland kennt. (29.2.)