"Orphans" (#) von Peter Mullan. England, 1997. Douglas Henshall, Gary Lewis, Stephen McCole, Rosemarie Stevenson
Die Mom von Sheila, Thomas, John und Michael stirbt und die Nacht vor ihrer Beerdigung wird für ihre Kinder um ein Haar zu einer Alptraumreise mitten in die Finsternis Glasgows: Michael wird bei einer Rauferei im Pub angestochen und irrt, schwer blutend, durch die nächtliche Stadt. John will den Stecher stellen und töten und verbündet sich dazu mit einem durchgedrehten Spinner, der ihnen eine Schrotflinte und Munition besorgt. Der fromme Thomas verharrt in einer Art Paralyse, verliert den Kontakt zur Realität und will die Nacht in der Kirche am Grab seiner Mutter wachend verbringen. Eigentlich sollte er auf die leicht behinderte, an den Rollstuhl gebundene Sheila aufpassen, läßt sie aber allein fortfahren, und so irrt auch sie hilflos umher. Was unvermeidlich auf eine schreckliche Katastrophe hinsteuert, wendet sich schließlich, allerdings nicht ohne einige recht blutige und makabre Umwege, doch noch halbwegs zum Guten: Michael wird knapp gerettet, nachdem er schon zwei Liter Blut verloren hat. John läßt den gesunden Menschenverstand siegen, hindert den abgedrehten Bastard daran, eine Frau zu vergewaltigen, erschießt um ein Haar ein Baby, und begnügt sich schlußendlich damit, den Stecher auf den Rasen zu hauen. Sheila landet gottlob bei einer netten Familie und wird dort vor weiterem Unheil bewahrt und rechtzeitig zur Kirche gebracht. Die allerdings hat schon kein Dach mehr - ein Wirbelsturm hat es ihr abgerissen, aber Thomas hat trotzdem ausgeharrt und bricht erst unter der Last des Sarges zusammen, den er ganz allein zur Grabstätte schleppen will. Und zuletzt läßt er sich von den komplett wieder hergestellten Geschwistern sogar dazu überreden, beim Inder zu speisen.
Ein echter Familienfilm mit unglaublichem schottischen Akzent (ich wette, den müssen die sogar für die Engländer untertiteln!) und eine haarsträubende Achterbahnfahrt zwischen wüster Komödie und Horror hart an der Schmerzgrenze. Was so alles in dieser einen Nacht in Glasgow passiert - nur weil eine alte Frau gestorben ist -, was ihre Söhne und ihre Töchter so alles erleben müssen zwischen Kneipe, Kirche, Straße und diversen Wohnhäusern, das ist schon allerhand. Mullen geht als Regisseur dabei in die Vollen, kriegt aber jedesmal wie durch ein Wunder noch die Kurve, bevor es vollends zu bunt wird. Auftreten, um nur einige zu nennen, eine biestige alte Schrulle, die eine Rollstuhlauffahrt für sich allein reklamiert, ein Wichser (im wahrsten Sinne des Wortes), der jedes Fast Food mit Scheck bezahlt, ein rüder Kneipier, der Gäste, die nicht so wollen, wie er will, schon mal übers Wochenende einbuchtet, bis diese schließlich den Spieß umdrehen und auf seinem Hintern Darts spielen, ein glücklicher frischer Schottenpappi, der Karaoke grölt und gegen Kondome ist und all die anderen Irren, von denen schon die Rede war. Mullen betrachtete sie mit Solidarität, tiefer Anteilnahme und viel humorvoller Sympathie, egal was sie tun, egal wie weit sie gehen. Ihm stehen zudem hervorragende Schauspieler zur Verfügung, die viele Szenen mit bestechender Intensität gestalten und jederzeit verhindern, daß das Ganze vielleicht doch zur einer grotesken Klamotte entgleist. Daß dies nicht geschehen ist, muß als die größte Leistung des Films angesehen werden, der sich fast am Rande ja auch noch mit Dingen wie Trauer, Familienbande, Menschlichkeit und die Suche nach Liebe und Geborgenheit befaßt und dies keinesfalls nur oberflächlich oder halbherzig. Ein gewagtes, drastisches und für zarte Gemüter nur bedingt geeignetes Kinostück mithin, aber eines, daß nur zweifelsohne einprägen wird. (13.6.)