„Karnaval“ (#) von Thomas Vincent. Frankreich/Belgien, 1998. Amar Ben Abdallah, Sylvie Testud, Clovis Cornillac

Dünkirchen und alles drumherum oben an der Nordküste ist eine jener Gegenden, die man vorzugsweise auf dem Weg gen Westen rasch passiert und dann heilfroh ist, wenn man das Elend hinter sich hat. Eine Industriewüste, für die der Begriff Ödnis erfunden wurde, kahl, entsetzlich trist und natürlich komplett menschenfeindlich. Die Leute in diesem Film sind aber keine Touristen, die mit wohligem Schauer vorüberziehen und sich denken, Gottseidank muß ich hier nicht leben, sondern tatsächlich Einwohner Dünkirchens, die im wesentlichen eine Chance pro Jahr besitzen, für ein paar Tage die alltägliche Scheiße um sich herum zu vergessen, nämlich den Karneval. Man verkleidet sich, gibt sich laut, derb, zotig, zieht durch Straßen und Kneipen und läßt buchstäblich mal so richtig die Sau raus, bevor es am Tag danach wieder in die Tretmühlen geht. Vor diesem Hintergrund spielt sich eine ganz alltägliche, einfache Dreiecksgeschichte ab: Ein Araber verliebt sich in eine junge Frau und stellt ihr hartnäckig nach. Die ist verheiratet mit einem jähzornigen Grobian und dementsprechend einem kurzen Seitensprung auch gar nicht abgeneigt, wenn es nur nichts Festes oder Bindendes sein soll. Genau das aber strebt der Araber an, der nämlich auch noch in Marseille eine neue Existenz gründen möchte, die Frau aber nicht dafür gewinnen kann. Der gehörnte Ehegatte rastet im allgemeinen Trubel völlig aus, zündet einen Hund mit Benzin an, dennoch aber wird das Ehepaar beisammen bleiben, während der Araber allein im Süden ankommt.

 

Sehr geschickt und dabei ohne jeglichen Aufwand benutzt der Regisseur das fast dokumentarisch eingefangene Karnevalstreiben in der Stadt, um den immer heftiger zulaufenden Gefühlskonflikt der drei Hauptpersonen zu illustrieren. Jederzeit droht die Kontrolle verloren zu gehen, schwappen die Emotionen hoch, deuten sich handfeste Auseinandersetzungen an und zeichnen sich vor allem grundsätzliche Mißverständnisse ab. Die junge Frau, Béa, ist tief in der Stadt und im Karneval verwurzelt und braucht ihn unbedingt jedes Jahr, um Dampf abzulassen und Spaß zu haben. Vergeblich versucht sie, dem Araber Larbi klarzumachen, daß alles, was zwischen ihnen passiert, nicht viel bedeutet und auf keinen Fall auf Dauer sein soll und daß sie weiterhin kein Interesse daran hat, an ihrem Leben etwas zu verändern, geschweige denn Mann und Kind zurückzulassen. Er wiederum, der zum Karneval gar keinen Bezug hat, versteht ihr Verhalten natürlich völlig anders, ihre Küsse, ihre Anhänglichkeit, und möchte eine gemeinsame Zukunft aufbauen, irgendwo anders, wo es warm ist und weil ihn hier im Norden auch nichts hält, keine Familie, keine anderen Bindungen. Hier prallen auch grundlegend verschiedene, unvereinbare kulturelle Auffassungen und Biographien aufeinander, die unweigerlich zum Bruch führen müssen. Das Schöne an dem Film ist dabei, daß er seine Personen niemals verurteilt oder mit moralischen Wertungen bedenkt, sondern jederzeit Verständnis, Sympathie, Mitgefühl für sie zeigt und dies auch weitergeben kann an die Zuschauer. Wir sehen diese Leute in ihrem Alltag, hören von der täglichen Angst um ihren Job, vom täglichen Frust, in dieser miesen Stadt leben und schuften zu müssen und von ihrer Freude auf den Karneval im Februar, denn da ist wenigstens für zwei, drei Tage die Welt mal nicht ganz so grau wie sonst. Ein lakonischer, ganz einfach und direkt gemachter Film, der auch nicht mehr bedeuten will, als er zeigt, weil das gar nicht nötig ist, denn das, was er zeigt, sagt mehr als genug über die Menschen, die wir hier sehen aus. Die Milieuzeichnung ist sehr intensiv und eindringlich, ebenso wie die Charakterisierung der Leute durch die sehr guten Schauspieler, und alles in allem erinnert dieser hervorragende Film etwas an die typisch englischen Milieufilme, obgleich er andererseits sehr spezifisch französisch ist. (16.5.)