„Memento“ (#) von Christopher Nolan. USA, 2000. Guy Pearce, Carrie-Anne Moss, Joe Pantoliano, Mark Boone jr., Stephen Tobolowski, Harriet Sansom Harris

Die Geschichte geht eigentlich so: Lennie sucht den Mann, der seine Frau vergewaltigt und getötet hat. Er gerät dabei in etwas abseitige Drogendealerkreise und stößt immer wieder auf einen Kerl namens Teddie, der ihm vielleicht sehr viele Lügen auftischt, und auf eine Frau namens Natalie, die auch nicht gerade leicht durchschaubar ist. Lennie hat Probleme mit dem Durchblick und also wird er rabiat: Er erwürgt einen Dealer, aber der war wohl der Falsche. Dann wirft er Natalies vermeintlich brutalen Freund aus der Stadt, aber das war auch nicht gerade die zwingende Aktion. Schließlich schießt er Teddie das Hirn raus, weil er glaubt, daß er es war und weil er genug von seinen wüsten Geschichten hat.

 

Dies ist also eine zeitlose Rachegeschichte, angesiedelt in einem recht öden, schäbig-tristen Hinterhof-L.A., die einen Mann zeigt zwischen Verzweiflung, finsterer Entschlossenheit und hilfloser Verwirrung. Diese Verwirrung hängt hauptsächlich damit zusammen, daß Lennie, als er die Vergewaltigung seiner Frau mitkriegt und ihr helfen will, eins über die Rübe gehauen bekommt und seitdem kein Kurzzeitgedächtnis mehr hat. Er weiß alles von früher, weiß wer er ist und so weiter, weiß aber nicht mehr, was vor zehn Minuten war, und folglich lernt er Tag für Tag jeden Menschen wieder neu kennen, muß sich jeden Tag neu orientieren und hat sich im Laufe der Zeit gewisse Hilfsmittel angeeignet: Er fotografiert Menschen und Schauplätze mit Polaroid, beschriftet die Fotos, schreibt sich kurze Merksätze zu den einzelnen Leuten auf und tätowiert wichtige Dinge auf seinen Körper. Hier steht die ganze Geschichte des Verbrechens an seiner Frau und die wichtigsten Indizien, die ihn zu dem Mörder führen sollen. Das ist an sich schon mal eine ganz neue, sehr tiefgehende und faszinierende Idee, denn man bekommt sehr intensiv und eindrücklich vermittelt, wie elementar wichtig das Gedächtnis und daran hängenden Orientierung für unser Leben, für unsere Identität sind. Tatsächlich hängt Lennies Identität, sein Selbstverständnis, seine Position in seiner Umwelt,  ständig am seidenen Faden, er lebt auf dünnem Eis, rutschig, zebrechlich, oder er lebt vielleicht wie in einem Sumpf, wo er ständig einzusinken, den Boden unter den Füßen zu verlieren droht. Er lebt in völliger Unsicherheit, abhängig zum einen von seinen Erinnerungshilfen und Notizen oder eben von dem, was die anderen Menschen ihm erzählen. Und da fängt natürlich die Schwierigkeit an, denn seine Schwäche macht ihn verletzlich, liefert ihn den Intrigen der anderen aus. Natalie benutzt ihn eiskalt, provoziert ihn so lange, bis er zuschlägt, kommt dann nach zehn Minuten wieder und erzählt ihm, ihr Freund habe sie geschlagen, womit sie genau das erreicht, was sie erreichen wollte, nämlich daß Lennie sich den Knaben vorknöpft. Auch Teddie treibt ganz offensichtlich irgendein Spiel mit ihm, nur kann man als Zuschauer nie so recht erfassen, was jetzt Lüge ist und was Wahrheit. Der große Trick dieses Film liegt darin, daß er ganz aus Lennies subjektiver Sicht erzählt wird und außerdem in kompliziert angeordneten Rückblenden, praktisch häppchenweise immer ein Stück weiter zurück in der Chronologie, so daß der geneigte Zuschauer zur Abwechslung mal mitdenken muß und das nicht zu knapp. Nicht nur muß man sich an sie zuletzt gezeigte Episode erinnern, um den Anschluß und den Zusammenhang nicht zu verpassen, man muß auch umdenken und lernen, Schlußfolgerungen rückwirkend zu ziehen und Verknüpfungen gegen die gewohnte Reihenfolge anzustellen, kurz, man bewegt sich in einem ähnlich schwammigen, unsicheren Gelände wie Lennie selbst, der ja die ganze Zeit über nichts anderes tut, als versucht, zu begreifen, wie die Dinge zusammenhängen. Genau das müssen wir hier auch tun, doch bekommen wir vom Drehbuch letztlich keine Hilfe (so wie Lennie ja auch keine Hilfe erhält, sondern mit Absicht mehr und mehr in Verwirrung gestürzt wird), denn der Film ist plötzlich aus und wir haben auf fast keine Frage eine Antwort bekommen. Auch in uns hat Teddy schreckliche Zweifel gesät: Ist Lennies Frau tatsächlich tot? Ist die Geschichte eines ebenfalls erinnerungsgestörten Versicherungskunden, die Lennie zwischendurch immer wieder erzählt, am Ende seine eigene Geschichte, und hat er selbst am Ende seine Frau, eine Diabetikerin, mit Insulin ins Koma gespritzt? Alles ist möglich, nichts ist sicher, zwar schlagen wir uns sofort auf Lennies Seite (auch dank der wirklich hervorragenden Vorstellung von Guy Pearce) und wollen Teddy auch nicht glauben, doch muß man bei klarer Betrachtung zugeben, daß es keinen einzigen Beweis für Lennies Geschichten gibt und es ebenso gut ganz anders hätte gewesen sein können. Lennies Fanatismus versteigt sich oft genug in eine Art Paranoia, und sein blindwütiger Mord an dem Dealer läßt doch mal ernstere Zweifel an Lennies Zurechnungsfähigkeit aufkommen. Wir haben es hier also mit einem höchst geschickt konstruierten, ebenso einfach wie genial ausgeklügelten Denkspiel zu tun, das uns fast zwei Stunden lang fesselt und die grauen Zellen mächtig rotieren läßt, so daß man auch noch Stunden oder vielleicht Tage danach noch mit Einzelheiten beschäftigt sein kann, weil man das Bild zusammen bekommen möchte und nicht akzeptieren kann, daß man selbst auch keinen letztendlichen Durchblick hat. Seine intensive Spannung bezieht der Film also weniger aus der Story als vielmehr aus seiner Erzählstrategie, die uns fordert, unsere Konzentration und unser Kombinationsvermögen, und die uns nachfühlen läßt, wie es sein muß, wenn man fast ohne jeglichen Halt, ohne verläßliche Sicherheiten und Wahrheiten leben muß. Sicherlich einer der ungewöhnlichsten Hollywoodfilme überhaupt. (19.12.)