„La noce“ (Russische Hochzeit) von Pavel Lungin. Rußland/Frankreich, 2000. Marat Bascharow, Maria Mironowa, Andrej Panin, Alexander Somtchev, Wladimir Simonow, Maria Golubkina
Seit vielen Jahren schon stricken die russischen Filmemacher mit typischer Besessenheit an dem niemals zu vollendenden Werk „Russische Apokalypse“, ein schon in Fragmenten monumentales, erschreckendes, bewegendes, beeindruckendes, grausames Untier, die Fratze einer Gesellschaft im vollkommenen Chaos, und doch auch humanistisches Gebilde, das in unseren Kinos leider immer seltener zu sehen ist, und auch das Fernsehen hat in den letzten zwei, drei Jahren seine natürliche Aufgabe, Versäumtes nachzureichen, vernachlässigt, zumindest was den russischen Sektor angeht. Wer sich als Zuschauer an die Meisterwerke der Achtziger und Neunziger erinnert – und ihrer gab es zahlreiche – weiß, was er entbehren muß, und auch Pavel Lungins neuer Film führt uns dies schön schmerzhaft vor Augen: Russische Apokalypse Teil soundsoviel, diesmal getarnt als turbulente ländliche Komödie: Ein schönes Mädchen kommt aus Moskau zurück in die Heimat und angelt sich per Münzwurf jenen jungen Mann, der sie eigentlich schon immer wollte, der aber stets in Ohnmacht fiel, wenn er seiner Angebeteten tiefer in die Augen sah. Leider verhindern einige wilde Verstrickungen einen reibungslosen Ablauf der Festivitäten, doch am Schluß, nachdem sie ihm ein uneheliches Kind gebeichtet hat und er gerade noch vor dem Kerker fliehen konnte, knattert die Kleinfamilie in eine fröhliche Zukunft – oder zumindest so fröhlich, wie eine Zukunft in Rußland überhaupt nur sein kann, sofern man nicht zu den privilegierten oberen Zehntausend zählt.
Es geht wahrhaft wüst zur Sache hier, es wird gebechert, gerauft, geprügelt, geschimpft, geklatscht, getobt, es wird Musik gemacht, es wird mit Geld geprotzt, es werden Autoritäten klargestellt, es wird vor allem unmäßig viel Unfug angerichtet, zumeist unter erheblichem Alkoholeinfluß. Dies ist die Clownsmaske einer burlesken Klamotte, doch begnügt sich Lungin selbstverständlich nicht damit, sondern er läßt uns immer wieder hinter die Maske schauen, und dort gähnt, wie nicht anders zu erwarten war, der blanke, tiefe, dunkle Abgrund. Hervor schaut ein Land, in dem so gut wie alle Strukturen zusammengebrochen sind. Fröhlich fährt der Bergmann in die Grube, wohl wissend, daß seine Bezahlung in den Sternen steht. Wenn es dann aber doch einmal wieder nach Monaten Geld gibt, spielen sich unglaubliche Szenen ab. Die Schnösel aus Moskau treten wie die Herrgötter auf und glauben, daß sie mit feinen Anzügen und ihrer Angeberei die Landeier fest im Griff haben. Fast alles wird mit Hilfe von viel Wodka erledigt, Heimaufseher werden bestochen, Polizisten geködert, Ehemänner oder bei Bedarf auch mal Ehefrauen sediert und zwischendurch hört der Spaß dann mal wieder auf und für kurze Zeit vergeht uns das Lachen gründlich. Lungin stellt sich in die Tradition grotesker, drastischer Satiren, die den ganzen Wahnsinn des russischen Alltags durch Absurditäten und Überzeichnung bloßstellen. Eine andere Möglichkeit wäre ein finsterer, ernster Film gewesen, wäre aber in diesem Fall auch fehl am Platze. Die dritte, ebenso oft gewählte Alternative ist die Emigration, doch hat man ja schon am Herrn Tarkowski sehen können, daß Russen im Ausland meist noch unglücklicher sind als zuhaus. Lungin finanziert seine Filme auch schon lange nur noch im Koproduktion – ein weiteres Dilemma der russischen Filmemacher ist natürlich das Geld, oder genauer der Mangel daran -, und gehört damit, auch das muß gesagt werden, zu den Privilegierten, denn er ist nicht wie die Überlebenskünstler, die er hier in diesem Film zeigt, auf irgendwelche Tauschgeschäfte oder sonstige Machenschaften angewiesen. Immerhin hat er diesen Leuten, den einfachen, sogenannten kleinen Leuten ein Denkmal gesetzt und zugleich Mutmaßungen darüber angestellt, wie das Leben, oder besser das Überleben in Rußland heutzutage aussehen muß, all dies getrieben von seinem starken Temperament, von rasantem Humor und der gekonnten Balance auf der dünnen Linie zwischen volkstümlichem Schwank und den erschütternden Realitäten dahinter. Große Klasse. (8.8.)