„Too much flesh“ (#) von Jean-Marc Barr und Pascal Arnold. Frankreich/USA, 2000. Jean-Marc Barr, Elodie Bouchez, Rosanna Arquette, Ian Brennan, Ian Vogt, Stephanie Weir, Rich Komenich
Irgendwo im Mittelwesten hinter Chicago, wo die Erde flach wie ein Brett ist und praktisch nur aus Maisfeldern besteht, fristet Lyle, ein Farmer unter vielen in einer Kleinstadt namens Rankin, sein Dasein mit seiner Ehefrau Amy. Die hat vor ein paar Jahren ihren Geliebten durch einen Unfall verloren, ist seitdem streng religiös geworden, und weil obendrein einst Gerüchte über die Dimensionen von Lyles äh Geschlechtsorgan die Runde machten, leben die beiden im Zölibat, lieb und nett, von allen geschätzt und respektiert, aber auch flach, stumpf und unerfüllt. Bis eines Tages ein Freund von Lyle, der es zum Schriftsteller gebracht hat, aus Paris zurück in die Heimat kommt. Im Schlepptau hat er Juliette, die in Lyle eine Art Befreiungslawine lostritt, und fortan schert sich der brave Farmer einen Dreck um die öffentliche Meinung, er lebt seine Lust, seine Triebe nach Gutdünken aus, genießt den Spaß mit Juliette durchaus auch in aller Öffentlichkeit und mit Wissen Amys, die zwar verletzt reagiert, aber selbst weiß, daß Lyle niemals ihre große Liebe war. Das größere Problem sind die anderen Mitbürger, allesamt bieder, fromme Hinterwäldler, die leider überhaupt kein Verständnis für diese Art von Freiheit und Offenheit aufbringen, und nach guter amerikanischer Tradition findet sich für solche Situationen immer der eine Ausweg – Gewalt: Lyle wird in ein Maisfeld gejagt und totgemacht.
Ein neuer Dogma-Film von den gleichen Leuten, die vor ein paar Jahren “Lovers“ über zwei Liebende in Paris drehten, und die nun über den Teich hüpften in die USA, um zu schauen, inwieweit Menschen dort drüben ihre ganz persönliche Freiheit ausleben können. Die Auflösung der Frage ist eigentlich recht schnell absehbar (obwohl ich ehrlich gesagt annahm, Juliette werde umgebracht), denn frühzeitig kommt die erste Mißstimmung auf, ertönen erste unverblümte Warnungen an Lyle, die forsche Französin doch bitte recht schnell wieder abzuschieben, damit alles wieder wie vorher sein könne. Denn erstens ist sie also Französin und also nicht von hier und zweitens ist das eine von den Frauen, die sich einfach nehmen, was sie haben möchten und die es den Herren des Ortes gegenüber entschieden an Unterwürfigkeit fehlen lassen. Aber auch Juliette verliert bald ihre Coolness, weil sie merkt, daß die Dinge einen bedrohlichen Verlauf nehmen und sich wohl nicht mehr steuern lassen. Lyle hat in seinem Rausch alle Rücksicht auf Konventionen und seinen eigenen Ruf fahren lassen, er gibt sich ganz seiner Lust hin, seinem Gefühl, das, wie er auch Amy deutlich sagt, nichts mit Liebe zu tun hat, sondern nur mit Sex, mit der überwältigenden Freiheit, diesen Sex endlich mal leben zu können. Genau dieses Gefühl bringt der Film auch am deutlichsten und radikalsten rüber, während er in allen anderen Belangen entweder skurril oder etwas belanglos bleibt. Er konzentriert sich auf Lyles Befreiung, auf seine Zeit mit Juliette, einfach auf den Genuß, den er so lange entbehren mußte. Der scharfe Kontrast dieser ungestümen Sexualität und der konservativ-restriktiven sozialen Umgebung rückt das Ganze in die Nähe der alten Amour Fou der Surrealisten, und vieles an Lyles und Juliettes frech provokativem Gestus bestärkt diese Assoziation, zumal besonders Lyle sein neues Selbstbewußtsein sichtlich genießt und endlich mal denen eins auswischen kann, die ihm mit Heuchelei und Bigotterie entgegentreten, die heimlich Wein trinken und öffentlich Wasser predigen. Er geht sogar soweit, einen andere Junge, der auch noch nie mit einer Frau geschlafen hat, in eine ménage à trois einzuladen, was die allgemeine Empörung nur noch steigert. Hier wirkt der Film stark, spontan, sehr direkt und intensiv, er bringt die Erotik, die reine Lust gut rüber und durch seine betont einfache, ungekünstelte und offensichtlich auch sehr budgetarme Machart gelingen ihm präzise und sehr authentische Milieuschilderungen, die sehr deutlich machen, weshalb jemand Lyle mit so einem Anliegen in dieser Umgebung scheitern muß. Die Hauptdarsteller sind sehr gut, vor allem Elodie Bouchez bringt ihre magnetische Präsenz wieder sehr schön zur Geltung, so daß man insgesamt doch von einem sehr gelungenen Film der Dogma-Reihe sprechen kann und noch mehr von einem wirklich überzeugenden und mit Herzblut gefilmten Plädoyer für die Freiheit. (31.10.)