„Bowling for Columbine“ (#) von Michael Moore. Kanada/BRD, 2002.
Vor etlichen Jahren hat Michael Moore schon mal Preise abgeräumt, damals mit „Roger and me“, einem Film über den lokalen Großkonzern General Motors, und was er in Moores Heimat Michigan angerichtet hat. Bissige Realsatire, halb Dokumentation, halb Polemik, sehr unbequem, sehr unangepaßt und ziemlich brillant. Genauso ist der neue Film geworden, genauso scharfzüngig, genauso emotional und zugleich cool und klarsichtig, und wenn er auch in Cannes gewinnt, so produzieren die Amis solch einen Nestbeschmutzerfilm noch lange nicht. Da hat es einer doch tatsächlich gewagt, nach dem heiligen 11. September eine mehr als kritische Auseinandersetzung mit dem Verhältnis der US-Bürger zu Waffen und zur Waffengewalt zu führen und obendrein deutliche Kritik an heiligen Kühen wie George W. Bush oder Charlton Heston zu üben. Dreist ist er wirklich, der Herr Moore, und genau diese Frechheit, die Unerschrockenheit und geradezu unglaubliche Hartnäckigkeit, mit der er Klinken putzen geht von Südkalifornien bis rauf nach Toronto, mit der er Wall Mart an den Karren pinkelt, Banken bloßstellt, die für die Eröffnung eines Kontos Schießgewehre verteilen, oder irgendwelchen obskuren Bürgermilizen nachstellt, die bis an die Zähne bewaffnet irgendwo im Mittelwesten herumrobben, all dies also macht die Stärke auch dieses Films wieder aus. Bestechend auch die äußere Erscheinung des Herren Filmemachers: Mit Schlabberjeans, Gammeljacke, raushängendem Hemd, dazu unrasiert, bebrillt schwabbelbäuchig und mit speckiger Mütze ist er das genaue Gegenteil eines braven, seriösen, allgemein ernstzunehmenden Interviewpartners, und doch wird man den Kerl nicht los, er bleibt seinem Ziel unerbittlich auf den Fersen, und auch wenn seine Fragen oft unschuldig und merkwürdig neben der Spur zu laufen scheinen, so beherrscht er es meisterlich, seine Gegenüber durch deren Antworten zu demaskieren. Ein Dokumentarfilmer par excellence, aber eben einer, der sich einbringt, der einen Standpunkt vertritt, Stellung bezieht. Wer Neutralität und gewissenhafte Faktensammlungen erwartet, hat hier nichts zu suchen.
Es geht um Gewalt: Das Massaker von Littleton ist ein Thema, das Bombardement von Oklahoma City ein anders, daneben gibt es aber auch ebenso alarmierende, unfaßbare „kleine“ Geschichten, wie die des kleinen schwarzen Jungen, der eines Morgens mit einer Pistole in die Schule geht und ein anderes Schulmädchen einfach totschießt. Die Frage ist, was für eine Gesellschaft ist es, die solche Taten in solcher Anhäufung zuläßt und hervorbringt. Wie kommt es, daß es in den USA durchschnittlich pro Jahr 11.000 Morde durch Schußwaffen gibt und in anderen Ländern auch proportional ungleich weniger. England, Deutschland, Frankreich, Japan, Kanada werden herangezogen mit verschwindend geringen Quoten im Vergleich, und Moore entkräftet von vornherein die üblichen Erklärungsansätze und stellt klar: In allen Ländern wird Heavy Metal gehört (einer wie Marylin Manson steht ja ganz oben auf der Liste der Schuldigen), in allen Ländern gibt es reichlich Gewaltfilme zu sehen, Gewaltspiele zu kaufen, und alle diese Länder haben, mit Ausnahme Kanadas, eine mehr als gewaltvolle Historie aufzuweisen. Mr. Heston nämlich holt sich genau diesen Punkt her und behauptet, Amerika hätte halt eine so blutige Geschichte, und so sei das Ausmaß der aktuellen Gewalt erklärlich, worüber gerade Deutsche ja nur lachen können. Klar, in Europa sind Waffen im allgemeinen sehr viel schwerer erhältlich als in den Staaten, und hier ist sicherlich eine wichtige Ursache zu suchen, doch die Kanadier beispielsweise sind auch bis an die Zähne bewaffnet, nur geschehen dort auch in größeren Städten fast gar keine Gewalttaten. Es muß also etwas anderes sein, etwas Spezifisches, was wirklich nur auf die USA zutrifft, was zusätzlich zum allgemeinen Waffenfetischismus, der starken Lobby der NRA und den sehr liberalen Verkaufsgesetzen hinzukommen muß. Moore ist einem anderen Phänomen auf der Spur, das die Amerikaner immer wieder stark beschäftigt hat: Paranoia, Verfolgungswahn, allgemeine, völlig irrationale, hysterische Ängste vor vermeintlichen Gegnern. Dies zieht sich, wie anhand eines schön fiesen Cartoons nachdrücklich gezeigt wird, durch die gesamte Geschichte: Verfolgung überall, daheim in Europa, dann die Indianer, dann die Brits, dann später die erstarkten Sklaven und heute halt der Islam und immer noch die Schwarzen. Die Gefahr lauert überall, jederzeit kann der Todfeind auf dein Grundstück kommen, und dann hilft dir niemand, also bewaffne dich, schütze dich und deine Familie, denn nur so bist du ein echter Mann und ein echter freier Amerikaner. Mit dieser Argumentation sehen wir uns wieder und wieder konfrontiert, sie gehört praktisch zum kulturellen Kanon, zum Selbstverständnis der Amis, nach ihrer Meinung zu ihren elementaren Grundrechten. Von Polizei und Staat verlassen, muß ein jeder, genau wie einst die Pioniere im Grenzland, um sein Leben, seine Freiheit, sein Eigentum kämpfen, und das tut man am wirkungsvollsten noch immer mit einer geladenen Waffe. Es gibt zahlreiche Momente, wo man zugleich laut rauslachen und empört nach Luft schnappen muß, so dicht liegen irrwitzige Satire und grausamer Ernst beieinander, so haarsträubend ist das Gesagte mitunter, und man hat als Europäer echte Probleme, sich in die Mentalität dieser Leute hineinzuversetzen - sind die nun wirklich so paranoid und irre, oder sind die einfach nur bodenlos dumm? Letztlich ist die Beantwortung einer solch traurigen Frage auch nebensächlich, Tatsache bleibt, daß Moore einen tiefen Blick in den Abgrund tut und Erstaunliches und Beängstigendes über die Befindlichkeit dieser Gesellschaft zutage fördert. Gestützt wird dieses Gedankengut übrigens maßgeblich von den Medien, die mit ihren einseitigen, verkürzten, kraß hochgepeitschten und absolut überzogenen Sensationsmeldungen den Eindruck vermitteln, an jeder Straßenecke lauere mittlerweile ein schwarzer Killer, und die damit die kollektive Hysterie natürlich wunderbar füttern, gleichzeitig prächtig daran verdienen. Ein System, das sich selbst erhält, befruchtet und für alle gute Gewinne abwirft, nur nicht für die, die daran sterben, und das sind im Jahre etliche Tausend. Einer der Gesprächspartner sagt es ganz deutlich: Selbst wenn die Verbrechensrate in den letzten Jahren leicht rückläufig ist, steigt der Konsum von Waffen und Munition weiterhin stark an und fokussieren die TV-Berichterstattungen noch immer auf spektakuläre Gewaltfälle, selbst wenn die längst nicht mehr repräsentativ für die tatsächlichen Verhältnisse sind. Im Fernsehen wird ein Paralleluniversum entworfen, randvoll mit Tod und Bedrohung (und eben auch Rassismus), und so ist es erklärlich, daß viele sich im Supermarkt mit scharfer Munition ausrüsten, und daß Waffengewalt allgemein auf ganz andere Hemmschwellen trifft als etwa hier in Europa. Moore argumentiert unerbittlich, logisch, satirisch und auch über zwei Stunden kein einziges bißchen pathetisch oder langweilig. Wir merken, wem seine Sympathien gelten, und wer sein Feind geworden ist, wir merken, wo seine persönliche Betroffenheit liegt, welche Geschichte ihn besonders bewegt. Ich kenne sonst kaum einen, der solche Filme macht, und man kann wirklich nur dafür beten, daß er seinerseits nicht doch Opfer irgendeines fanatischen Heckenschützen wird, zumal es drüben bestimmt einige gibt, die ein solches Ende für absolut okay halten. Bis dahin wird er hoffentlich noch einige Filme machen, denn der hier ist wieder ein echtes Highlight, zumal in der tristen US-Filmlandschaft. (27.11.)