„Das weiße Rauschen“ von Hans Weingartner. BRD, 2001. Daniel Brühl, Anabelle Lachatte, Patrick Joswig, Katharina Schüttler, Ilse Strambowski

Lukas kommt vom Land in die große Stadt Köln, zieht zu seiner Schwester und ihrem Freund in eine WG, immatrikuliert sich an der Uni und freut sich ganz allgemein, daß jetzt endlich mal ein anderes Leben losgeht, denn da, wo er herkommt, von seinen Großeltern in der Provinz nämlich, ist absolut gar nichts los. Schwesterchen und ihr Freund nehmen Luke auf allerhand Spritztouren mit, und weil sie echte Säureschädel sind, werfen sie so ziemlich alles ein, was irgendwie in Verdacht steht, bewußtseinserweiternd zu wirken. Nach einem besonders harten Trip mit Pilzen hört Lukas anderntags plötzlich Stimmen, und die wird er fortan nicht mehr los. Was anfangs als Nachwirkung eines etwas zu heftigen Rauschs mißdeutet wird, entpuppt sich als ernste Psychose: Luke springt aus dem Fenster und kommt in die Psychiatrie, wo eine Schizophrenie diagnostiziert wird. Er kriegt eine medikamentöse Therapie aufgehalst, wird freigelassen und soll reintegriert werden, indem er Schaufensterpuppen zersägt. Doch auch das geht nicht gut – eines Tages landen die Psychopharmaka im Klo und Luke im Rhein. Ein paar Hippies fischen ihn auf und nehmen ihn mit nach Nordspanien, als Teil ihrer großen Familie. Endlich sieht es so aus, als habe Luke Anschluß gefunden, als können er einen Weg zurück in die sogenannte Normalität finden. Doch das Mißtrauen der Kommune und seine immer wiederkehrenden inneren Stimmen sind stärker und so bleibt er zurück als die Karawane weiterzieht. Er schaut in die Wellen und sinnt nach über das große weiße Rauschen, das, so hat er einmal gehört, die Summe aller Visionen und Gedanken aller Menschen ist, und wer es hört, wird entweder auf  der Stelle wahnsinnig oder, sollte er das bereits sein, wieder gesund.

 

Zunächst ist dies mal eine brillant gespielte und in ihren Absichten sehr ernsthafte und alles andere als banale psychologische Studie. Der Film ist nicht darauf aus, bequeme Erklärungen und Lösungen anzubieten, er vertieft sich auf zum Teil höchst intensive und eindringliche Weise in die Psychose des jungen Luke und ist eher eine Zustandsbeschreibung denn eine tiefergehende Analyse. Wer solches erwartet, wird vielleicht ein wenig enttäuscht, denn auch der Besuch der Schwester beim Opa, das später Erforschen der eigenen Familiengeschichte, fördert zwar ein paar schlaglichtartige Fakten zutage – Selbstmord der Mutter beispielsweise nach wiederholtem Aufenthalt in psychiatrischen Anstalten – wird aber nicht weiter vertieft oder verfolgt und rasch wieder überdeckt von den aktuellen, den nächsten Bildern. Die Psychose wird nicht von innen her betrachtet, sondern von außen, und da gelingen der Regie und den Darstellern schon enorm beklemmende, authentische und einprägsame Momente, vor allem dort wo Luke gefangen wird von den furchtbaren, bedrängenden, höhnischen, aggressiven, beleidigenden, bedrohlichen, allgegenwärtigen Stimmen, die alles andere überlagern, die eine vernünftige Verständigung mit der Umwelt unmöglich machen, ihn isolieren, ihn wütend, rasend, für andere bedrohlich werden lassen, ihn aber in Wahrheit nur vollkommen hilflos machen. Manchmal sieht man ihn mitten in der Stadt, auf der Straße, in einem U-Bahnhof, irgendwo im Park, mal wie paralysiert stehen, mal in rastloser, manischer Unruhe umherhastend, total gefangen in sich selbst, in seinem Verfolgungswahn, seinem Kampf gegen diese Stimmen. Manchmal sieht man ihn dann in der Wohnung, wie er verzweifelt sein Zimmer auseinandernimmt auf der Suche nach dem Ursprung der Stimmen, wie er die Mitbewohner beschimpft und tätlich angreift, weil er sich von ihn verhöhnt und verachtet wähnt, wie er einfach stundenlang unter der Dusche hockt, weil das Rauschen des Wassers lauter ist als die Stimmen und ihm wenigstens für diese Zeit Linderung verschafft. Luke ist mit seiner Krankheit ganz allein, wie die meisten in dieser Situation: Die engsten Freunde oder Verwandte sind erschrocken, verletzt, überfordert oder mißdeuten die Symptome. Die Psychiatrie reagiert routiniert, kippt Haldol in den Menschen rein und wartet, bis er ordentlich sediert ist und wieder auf die Menschheit losgelassen werden kann. Diese Menschheit in der Masse ist natürlich auch nicht dazu angetan, Außenseiter wie Luke aufzunehmen. Man schaut entweder an ihm vorbei, ist empört ob des nonkonformen Benehmens oder äußert sich gar noch aggressiver. Auch die Geduld der Hippies, die ja gern in dem Ruf stehen, wirklich alles und jeden zu lieben, ist irgendwann aufgebraucht, weil sie halt doch nur Menschen sind, und dieser komische Typ mit dem unberechenbaren, provokativen Getue echt nervt. Diese längere Episode versackt auf halber Strecke, und gerade als man befürchtet, daß dies das Ende der Geschichte sein könnte – ein grotesk naives und unangemessenes Ende wäre dies selbstverständlich geworden -, kriegt der Film doch wieder die Kurve und zeigt, daß Lukas noch lange, viel länger brauchen wird, um sein Leben in den Griff zu bekommen, wenn er es denn überhaupt schafft. Also ist das wirklich mal ein Film, der sich um einen tiefgründigen, anspruchsvollen und ehrlichen Umgang mit einer solchen Krankheit bemüht, und das an sich ist schon verdammt selten und ehrt den Film sehr. Was ihn, zumindest aus meiner Sicht, nicht ganz so ehrt und ihm vielmehr zum Nachteil gereicht, ist seine mittlerweile doch etwas strapazierte „Dogma“-Ästhetik, also die Wackelvideokamera, die Authentizität, Nähe, Spontaneität und sonstwas suggerieren will, und im jungen deutschen Film mittlerweile ein fest etabliertes Stilmittel geworden ist (deshalb auch schon wieder Mainstream!), aber interessanterweise von den dänischen Dogma-Regisseuren noch immer sehr viel effektiver, origineller und irgendwie spannender benutzt wird. Ich kriege, wenn ich all diese Deutschfilme sehe, und davon gibt’s ja doch einige in den letzten Jahren, das Gefühl nicht los, daß bei denen der oberflächliche Schick überwiegt und nicht das, was sie eigentlich zeigen wollen. Die Dänen kommen auf den Punkt, überraschen uns, nehmen uns den Atem, während die Deutschen zwar auch nach bestem Wissen und Gewissen wackeln und fuchteln, man sich als Zuschauer aber häufig fragt, warum denn dies nun so sein mußte. In diesem Film ganz besonders, denn hier geht es ja weniger um das Lebensgefühl junger Großstädter (in dem Zusammenhang kann man diese Technik am besten tolerieren), als vielmehr um eine konzentrierte, individuelle Betrachtung, eine psychologische Geschichte, und die kommt am besten zur Geltung, wenn sich kein Wackelheini in den Vordergrund drängt, sondern eine ruhige Kamera ganz unaufdringlich und mannschaftsdienlich eingesetzt wird. Naja, wahrscheinlich bin ich nur wieder zu konservativ, aber ich habe mich gerade bei einem an sich so hervorragenden und ambitionierten Film hier und da mal geärgert über den modischen, aufgesetzten Firlefanz und mir aufrichtig gewünscht, daß auch die neuen Kerle am Regiepult sich noch trauen, mal wieder was einfaches, klassisches zu machen, oder auch nur einfach etwas, das ihrem Stoff und ihren Absichten angemessen ist. Aber was weiß ich schon von den Absichten des Herrn Weingartner? (24.3.)