„The pianist“ (Der Pianist) von Roman Polanski. Frankreich/Polen/BRD/ England, 2002. Adrien Brody, Emilia Fox, Thomas Kretschmann, Frank Finlay, Maureen Lipman, Ed Stoppard, Julia Rayner, Jessica Kate Meyer, Ruth Platt

Dieser Polanski ist schon ein merkwürdiger Mensch. Da dreht er vierzig Jahre lang alle möglichen Filme, mal Psychogroteske, mal Horror, mal Erotik, mal Shakespeare, mal Klamauk, mal Hardy, mal Schwarze Serie, mal Hitchcock, mal bestens gelungen, mal weniger, nur die eine Geschichte, die nämlich, die etwas mit ihm selbst und seiner polnischen Vergangenheit zu tun hat, die rührt er nicht an, nie. Er verdrängt stattdessen hartnäckig, tobt sich höchstens in irgendwelchen düsteren, allegorischen Werken aus, die man mit Mühe deuten könnte, doch direkt kommt er niemals zur Sache. Erst mit fast siebzig gibt er uns nun doch noch den Film, den wir schon längst von ihm erwartet hatten und der, gar nicht unwichtig, auch auf den Menschen Polanski, der bislang nicht richtig faßbar schien, ein neues, erklärendes Licht wirft.

Die wahre Geschichte von einem, der, wie Polanski auch, überlebt hat damals in Polen, in Warschau. Fast sechs entsetzliche Jahre Naziterror hat der Pianist  Wladyslaw Szpilman überstanden, um dann erst im Jahre 2000 im hohen Alter zu sterben. Er hat die Geschichte seines Überlebens niedergeschrieben, und Polanski hat sie verfilmt, hat damit die eigene und die polnische Vergangenheit zurück ins Leben gerufen, hat Preise damit gewonnen, kann diese Geschichte also dem großen Publikum erzählen, und hat es doch geschafft, einen absolut seriösen, wahrhaftigen Film zu machen. Es gibt keinen Moment der falschen Töne, keine Szene, in der man an den Absichten des Regisseurs Polanski zweifelt und an seiner tiefen Identifikation mit dem Menschen Szpilman und mit all den anderen Menschen, die ihm geholfen, die mit ihm gelitten und gehofft haben, die überall um ihn herum gestorben sind und sich dennoch verzweifelt gegen die deutschen Mörder und Barbaren gewehrt haben. Zweieinhalb Stunden lang erleben wir alles mit: Die Besetzung Warschaus, die ersten Schikanen gegen die vierzigtausend Juden, die in der Stadt leben, die erste Beunruhigung in der Familie Szpilman, die mit Ausnahme des einen Bruders erst spät das Böse kommen sieht, die Judensterne, die Ladenverbote, die Demütigungen und Schläge, und dann plötzlich der Plan für das Ghetto. Der Massenumzug, das Leben hinter der Mauer, die Krankheiten, der Hunger, das Sterben, die wahllosen Morde der Deutschen, die furchtbare Angst vor täglichen Erschießungen und Razzien, die Formierung eines Widerstandes im Verborgenen und die Rolle der jüdischen Ghettopolizei, die Wladyslaw vergeblich zu rekrutieren versucht, ihm aber später, bei den Transporten in Richtung Treblinka das Leben rettet. Die Familie wird getrennt, Wladyslaw wird sie nie wiedersehen und fortan wird er allein überleben müssen. Er tut es, versteckt von Freunden in Warschau in verschiedenen Wohnungen, in ständiger Furcht vor der Entdeckung, halb verhungert, schwer krank, erlebt er den Aufstand des Ghettos von außen mit und hört auch, wie die russischen Truppen immer näher rücken. Als er einem deutschen Offizier in die Hände fällt, geschieht zum zweiten Mal etwas, das ihn vor dem sicheren Tod bewahrt: Statt ihn zu töten oder festzunehmen, versteckt ihn der Deutsche und versorgt ihn sogar mit Nahrung. Nach Kriegsende kann sich Wladyslaw dafür nicht mehr revanchieren – der Deutsche taucht in irgendeinem russischen Lager unter und stirbt dort später.

 

Zweieinhalb Stunden lang sind wir dicht dabei, so dicht, daß wir uns den Bildern nicht entziehen können, ihrem Horror nicht, ihrer Bedeutung nicht, und egal ob Polanski das Grauen des Ghettos adäquat erfaßt hat oder nicht, er bringt uns all dies so nahe, wie lange kein anderer Film. Jenseits aller Spekulationen oder Botschaften zeigt er uns die Bedingungen des Überlebens, so wie dieser Mann Wladyslaw sie erfahren hat. Überleben heißt, daß andere statt seiner oder für ihn sterben müssen. Seine Familie muß sterben, Freunde müssen sterben, Kinder krepieren im Ghetto, ganze Familien werden auf die Straße geworfen und erschossen, andere wie Tiere totgeprügelt, auf einem Haufen verbrannt und wie Müll liegen gelassen. Überleben heißt, all dies ansehen müssen, es ertragen müssen und trotzdem weiterleben zu wollen, obwohl alles in einem sagt, daß man nicht mehr leben will. Wladyslaw ist gar kein Kämpfer, kein Agitator, nicht mal ein sehr politischer Mensch, eher ein typischer Künstler, introvertiert etwas weltfremd, und immer sind da in entscheidenden Augenblicken Leute, die für ihn handeln oder etwas mit ihm tun. Der rohe jüdische Ghettooffizier zerrt ihn aus der Transportschlange nach Treblinka und rettet ihn zum ersten Mal. Der deutsche Offizier verschont ihn ebenso, weshalb, bleibt unklar, Wladyslaw selbst versteht das am allerwenigsten. Und zwischendurch riskieren polnische Widerstandskämpfer ihr Leben, um den Pianisten zu verstecken und vor den Nazis zu schützen, aber der selbst bleibt eher ein Objekt, verschreckt, verstört, verängstigt, der zuletzt nur noch mit dem Instinkt eines verwundeten Tieres irgendwo in Kellern Unterschlupf sucht und nach letzten Essensresten gräbt. Wie Adrien Brody das über die ganze Distanz spielt – denn er ist ständig in fast jedem Bild – ist überragend und gibt dem Film noch mehr Tiefe und Gestalt. Polanski selbst nimmt sich sehr zurück, erzählt klar, geradlinig und einfach, braucht nicht auf grobe Effekte zu setzen und nicht auf billige Gefühlsmache, sondern er zeigt ganz einfach, was der Pianist erlebt hat, und hat so einen durch und durch erschütternden und bewegenden Film gemacht, der auch zeigt, daß über diese ganze Zeit noch lange nicht alle Geschichten erzählt sind und daß sich immer noch große und wichtige Filme daraus machen lassen. Ob es nun Polanskis bester ist, bleibt Geschmackssache und jedem seiner Neigung nach selbst überlassen. Für mich ist es wohl sein bester, weil hier endlich mal der Mensch Polanski deutlicher sichtbar wird und nicht versteckt bleibt hinter irgendwelchen Fratzen und Masken und Tricks. Ein humanistisches Dokument ist der Film nebenbei sowieso auch. (30.10.)