„Amen“ (Der Stellvertreter) von Costa-Gavras. Frankreich/BRD, 2002. Ulrich Tukur, Mathieu Kassovitz, Ulrich Mühe, Michel Duchaussoy, Ion Caramitru, Antje Schmidt, Friedrich von Thun, Marcel Iures, Hanns Zischler

Kein Zweifel: Dies ist ein Film, der auf der richtigen Seite steht, ein klares Bekenntnis gegen den Faschismus, gegen das Unrecht, die Verbrechen, die Massenmorde der Nationalsozialisten, gegen jegliche Verletzung der Menschenrechte, ein Film gegen das Schweigen dazu, ein Film für den Widerstand und für die Verpflichtung des Einzelnen genau hierzu.

Auch kein Zweifel: Dies ist der Film eines ganz ausgezeichneten Regisseurs, eines Spezialisten für anspruchsvolle, gleichwohl polemische, politisch klar positionierte Filme, die es immer perfekt verstanden haben, Unterhaltung und absolut aufrichtiges Engagement so zu verknüpfen, daß es niemals flach, billig, klischeehaft, kalkuliert oder allzu melodramatisch wurde. Ein Regisseur von Klassikern des Politthrillers wie „Z“, „Das Geständnis“ oder „Sondertribunal“, die sämtlich ohne jegliche Gewaltspekulation auskommen, ohne großes Spektakel, ohne hitziges Getöse, und die dennoch ungleich spannender sind als viele ihrer Kollegen mit all ihrem Bombast, all ihren Actionhighlights, all ihren Explosionen. Diese Qualität besitzt auch dieser neue Film im vollen Umfang: Gut zwei Stunden vergehen ohne jegliches lautstarke Brimborium, und dennoch sitzt man gespannt, gefesselt, absorbiert im Kinosessel, und zwar die ganze Zeit über und ohne Pause. Das ist eine Kunst, die wahrlich nicht sehr viele andere Filmemacher beherrschen, und sie gilt es zu würdigen, und es ist, finde ich, völlig legitim, sie auch zur Verteidigung dieses Films heranzuziehen. Wir haben es – auch hier ist kein Zweifel angebracht - mit perfektem, niveauvollen Handwerk zu tun, sämtlich hervorragenden Schauspielern, die offensichtlich ihr Bestes geben, und einer Dramaturgie, die besondere Höhepunkte sorgsam vermeidet, und eher auf durchgängige Spannung setzt, was ihr wieder einmal sehr gut gelungen ist. Natürlich könnte man zum x-ten Male die Frage aufwerfen, ob ein solch offenkundig kommerzielles Produkt das geeignete Medium zur Diskussion der Nazigreuel, sprich des Holocaust, sein kann, und zum x-ten Male werden sich genügend schlagkräftige Argumente dagegen finden, aber ich persönlich kenne eine ganze Reihe von Filmen ähnlicher Thematik, die ungleich verlogener, glatter, oberflächlicher und unredlicher daherkommen, als dieser. Costa-Gavras ist ein Regisseur, der sich ehrlich engagiert, der das, was er hier zeigen möchte, voll und ganz vertritt. Ihm Kalkül vorzuwerfen wäre meiner Meinung nach verfehlt.

Dennoch habe ich natürlich ein großes Problem mit dem Film. Er basiert auf dem legendären Theaterstück Rolf Hochhuths, welches seinerzeit, genauer gesagt 1963 (da war ich noch nicht mal geboren), einen Riesenskandal und in der Nachfolge eine nicht minder ausufernde und bis heute enorm wichtige breit angelegte Diskussion in der BRD losgetreten hat. Das ist vierzig Jahre her, und in diesen vierzig Jahren ist – man kann jetzt nicht mal „leider“ sagen, oder? – sehr viel passiert, was die Rezeption dieses Stückes entscheidend verändert hat. Die sogenannte Vergangenheitsbewältigung, die Verarbeitung, die bloße Auseinandersetzung mit dem „Dritten Reich“ hat mittlerweile eine völlig andere Dimension angenommen als damals, wo noch immer die erste Generation am Ruder war, wo noch immer historisch reichlich „belastete“ Leute in Amt und Würden überall eifrig weiter tätig waren, wo der allgemeiner Konsens dahin ging, lieber nach vorn zu schauen, in die Hände zu spucken, das Wirtschaftswunder voranzutreiben, statt immer in der Vergangenheit zu kramen und längst Geschehenes immer wieder aufzuwärmen. Es hat unerträglich lange gedauert, es geschahen unerträglich viele Skandale, doch glaube ich, daß man in dieser Republik mittlerweile doch weiter ist, was dieses Thema angeht. Zweitens hat sich die Rolle der Kirche natürlich grundlegend gewandelt, soll heißen, die Kirche hat schlicht und ergreifend dramatisch an Macht, Einfluß und Prestige verloren. Seinerzeit kratzte Hochhuth auf unerhörte Weise an einem Tabu, nämlich an der Integrität der heiligen römisch-katholischen Kirche, in dem er nach der päpstlichen, bzw. kirchlichen Verantwortung im Zusammenhang mit den Holocaust fragte, heute, da bin ich mir ziemlich sicher, würde dies allein kaum mehr ausreichen, um solche Wellen zu schlagen. Und drittens fehlt mir persönlich die Einsicht in den damaligen Kontext, das heißt, ich weiß halt nicht, wie genau das 1963 mit dem Stück war, ich kenne das Stück selbst nur noch recht ungenau, und kann nicht beurteilen, wie es einst rezipiert wurde und wo genau das große Provokationspotential lag bzw. wie damit umgegangen wurde. Aus all diesen Gründen habe ich mich zwischendurch mal gefragt, wieso Costa-Gavras diesen Film genau heute, im Jahre 2002 überhaupt gemacht hat. Um einen Beitrag zum Thema Holocaust zu leisten? Da hätte es sicherlich andere Möglichkeiten gegeben. Um ein durchaus hochnotpeinliches Stück aus der jüngeren Kirchengeschichte anzusprechen? Auch da könnte man sich sicherlich andere Wege vorstellen. Also hat ihm vielleicht etwas an dem Theaterstück an sich gelegen. Nur was? Der Film kürzt und strafft, er enthält doch recht viel Handlung um die Schlüsselszenen herum und er kürzt und strafft, so hat man jedenfalls den Eindruck, besonders an den Stellen, wo es inhaltlich stärker zur Sache geht, was darauf hinausläuft, daß er sich gerade in den Fragen der Kirche, ihrer Position, ihres Selbstverständnisses und ihrer Verantwortung als eine Instanz von großer macht und Tragweite, eher an der Oberfläche bewegt. Gerstein mitsamt seiner Person und seines schrecklichen inneren und äußeren Konfliktes wird recht klar umrissen, er dominiert aber so sehr, daß Riccardo wiederum unangemessen stark in den Hintergrund treten muß. Man kann sicherlich erfassen, worum es hier geht, doch hätte inhaltlich vieles differenzierter behandelt werden können. Es ist ausgeschlossen, daß der Film im Jahr 2002 auch nur annähernd so viel Staub aufwirbeln wird, wie das Stück zu seiner Zeit. Wenn Costa-Gavras aber keinen Staub aufwirbeln wollte, was dann?

 

Zwei starke Momente werden mir, neben den wie gesagt ausgezeichneten Darstellern, dennoch besonders in Erinnerung bleiben: Zum einen die unentwegt rollenden Güterzüge. Mit geschlossenen Türen rollen sie gen Osten, mit offenen Türen rollen sie zurück gen Westen. Ein ebenso einfaches wie unvergeßliches Bild, in dem prägnant und ohne jeden großen Aufwand die gesamte schrecklich effiziente Vernichtungsmaschinerie, der besinnungslose Eifer der Deutschen bei der Massentötung der Juden versinnbildlicht wird. Zum zweiten die Schlußszene, in der Ulrich Mühe als zynischer SS-Arzt Unterschlupf im Vatikan findet und von dort nach Argentinien weiter geschleust werden wird. Ihm geht es wie vielen damals – sie fanden entsprechend ihrer Talente und Qualifikationen Unterschlupf irgendwo in der Welt, wo sie dann weitgehend friedlich und unbehelligt bis ans Ende ihrer Nazitage lebten, gedeckt und mit einer neuen Identität versorgt von jenen, die sich ansonsten mit viel Lärm zu den Anwälten der verfolgten Juden machten. Ein Skandal von unglaublichem Zynismus, beispiellos eigentlich in der Geschichte, und Costa-Gavras widmet ihm eine schön patzige, fiese kurze Szene, die uns doch, obwohl wir vielleicht die Zusammenhänge schon kannten, wieder einmal sprachlos auf die Straße schickt. Naja, alles in allem ein Film, der ein paar wichtige Fragen für mich nicht beantworten kann, der aber doch, und das zeichnet ihn dann wieder aus, Anlaß zu Debatten geben könnte, auch wenn die kaum so grundsätzlich ausfallen dürften wie einst in den wilden Sechzigern. (30.5.)