„Innocence“ (#) von Paul Cox. Australien, 2001. Julia Blake, Charles Tingwell, Teddy Norris
Claire und Andreas waren vor fünfzig Jahren ein Paar – die erste große, absolute, romantische Liebe. Sie wurden getrennt und nun sehen sie sich wieder, weil Andreas einen neugierigen Brief schreibt. Claire wehrt sich zunächst, alte Gefühle wieder aufzuwärmen, doch dann überläßt sie sich doch diesen Gefühlen, die beiden schlafen miteinander, verlieben sich erneut. Andreas lebt schon lange als Witwer, doch Claire ist noch verheiratet und John, ihr Gatte, mit dem sie seit zwanzig Jahren eine solide, doch völlig körperlose und im Grunde distanzierte Ehe geführt hat, will sich nicht so einfach in sein Schicksal als Verlierer ergeben. Dann kommen die Schicksalsschläge: Andreas erfährt, daß er Darmkrebs im fortgeschrittenen Stadium hat, bringt es aber nicht übers Herz, Claire davon zu erzählen. Diese wiederum hat seit Jahren ein stark angeschlagenes Herz, was er seinerseits nicht weiß, und als sie eines Abends urplötzlich in einer Kirche während seines Orgelspiels tot umfällt, ist er völlig erschüttert. Ein Brief von ihr, den ihr Sohn Andreas übergibt, soll aber ein versöhnliches Schlußwort sein und etwas von ihrer Lebensphilosophie der allumfassenden Liebe fortwirken lassen.
Ein ganz stiller, wunderschöner Film, der einem fast den Glauben als das klassische, menschliche Kino zurückgibt, denn hier geht es wirklich und wahrhaftig einmal nur um eine Handvoll Menschen, um das was sie waren, was sie nun sind, was sie einst erträumten, was daraus geworden ist und was sie womöglich heute noch erträumen, und vor allem um das, was sie füreinander bedeuten, was sie voneinander erwarten, um ihre Hoffnungen, Träume, Enttäuschungen, ihr begehren, ihr Entsagen, ihre Kompromisse, kurz, um all das, was menschliches Zusammenleben überhaupt ausmachen kann. Aber kein Film über die Weisheit und Abgeklärtheit des Alters, denn dies wird von den Beteiligten wahrlich nicht vorgeführt: Andreas, ein sensibler, aber mittlerweile etwas unbeweglich gewordener Witwer, der schon vor dreißig Jahren seine Frau verlor, wirft alle Bequemlichkeiten und Sicherheit ebenso über Bord, wie Claire, die obendrein noch in einer gut situierten Ehe daheim ist, glücklich vielleicht nicht gerade, aber sicher und stabil. Ihre Begegnung mit dem Geliebten von einst bringt sie dazu, ihr Lebenskonzept noch einmal in Frage zu stellen, sich ehrlich mit ihrer Ehe auseinanderzusetzen und auch John mit den Konsequenzen zu konfrontieren. Sie folgt ihrem Herzen, zunächst zögernd, doch später bedingungslos und ehrlich, und ist auch noch nicht zu alt, um die Männer immer noch mit ihren Ansprüchen und Erwartungen zu behelligen und sie immer wieder aus ihrer Lethargie zu reißen. Um sie kreist der Film, ihre Wiederbelebung, ihre neuerliche Bewußtwerdung als Frau, auch als liebende und lustvolle Frau, bilden das emotionale Zentrum, den Strudel, in den Andreas und John hineingezogen werden, markieren das geschlechtertypische Gefälle, wenn es darum geht, sich über Beziehungen und Gefühle Gedanken zu machen und diese Gedanken vor allem auch mal zu artikulieren. Um diesen Kern aus drei Personen kreisen noch ein paar Familienangehörige, Claires und Johns Sohn und Andreas‘ Tochter und Haushälterin, und auch bei ihnen gibt sich der Film sehr viel Mühe, vertiefte und intensive Schilderungen der verschiedenen Beziehungen zu geben, und immer wieder gibt es lange Gespräche und Begegnungen, Momente großer Nähe, aber auch Augenblicke voller Mißverständnisse, es gibt sehr zärtliche erotische Szenen, und immer wieder durchdringen Erinnerungen von damals schlaglichtartig das gegenwärtige Geschehen, mal mit bitterem, mal mit süßem Beigeschmack, denn stets sind diese Erinnerungen schön wegen dem, was man erlebt hat, und auch traurig wegen dem, was man einst verlor, denn eine Pause von fünfzig Jahren war mit Sicherheit nicht das, was sich Claire damals erträumte. Das Miteinander der Menschen hier ist voller Komplexität, doch keiner Zeit muß der Film laute Töne bemühen, wirkt er forciert, angestrengt, mutwillig oder auch kitschig, was sehr wohl der Fall hätte sein können. Wie immer man Claires letztes Bekenntnis zur Liebe zu allen Dingen beurteilen mag (wenn ein Urteil in solchem Fall überhaupt angebracht ist), so drückt der Film mit seinen warmen Bildern und der sehr schönem lyrischen Musik, drücken vor allem auch die wunderbaren Schauspieler diese Vorstellung vollendet aus. Es geht also um, Liebe im Alter, darum, ob man sich mit Siebzig sowas noch gestatten darf, um den Mut, zu dieser Liebe zu stehen gegen alle Widerstände, es geht aber auch um allgemeinere Dinge, um Liebe, Freundschaft, Aufrichtigkeit, und wenn diese Dinge mit soviel Feingefühl, Zärtlichkeit und Zuneigung behandelt werden, wird selbst so einem kalten Fisch wie mir richtig warm ums Herz. (28.1)