„Iris“ (#) von Richard Eyre. England, 2001. Judi Dench, Kate Winslet, Jim Broadbent, Hugh Bonneville, Penelope Wilton
Lange hat es keinen Film mehr gegeben, nach dem meine Gefühle, mein Urteil dermaßen zwiegespalten waren. Auf der einen Seite spricht in mir eine Stimme, und die möchte den Film unbedingt mögen: Er ist brillant gespielt, sehr schön ästhetisch gestaltet, sehr intensiv und gefühlvoll und reiht sich in diesem Sinne auf jeden Fall nahtlos ein in die lange Riege hochklassiger britischer Literaturfilme. Aber leider ist da noch diese andere Stimme in mir, und die ist nicht zum Verstummen zu bringen, und die sagt laut und deutlich, daß diesem Film etwas fehlt zu einem wirklich guten Film. Bei Tageslicht betrachtet fürchte ich fast, daß ich dieser zweiten Stimme den Vortritt lassen muß bei der Beurteilung, und das ist besonders schade, denn dies hätte ein wirklich fabelhafter Film werden können.
Nach den Erinnerungen von John Bayley greift er episodenhaft verschiedene Momente aus dem Leben der anglo-irischen Schriftstellerin Iris Murdoch auf, mit der Bayley bis zu ihrem Tod durch die Alzheimerkrankheit 1999 (sie wurde wohl achtzig Jahre alt) verheiratet war. Es wird erzählt, wie sie sich kennenlernten in Oxford – er ein junger, völlig unbeholfener, stotternder Universitätsassistent, sie eine selbstbewußte, geheimnisvolle Erscheinung mit einem ausgesprochen breitgefächerten Sexualleben -, wie er mühsam Zutritt zu ihrer eher verschlossenen Welt erlangte, und wie sich dann das Zusammenleben im Alter gestaltete bis hin zum allmählichen Ausbruch der fürchterlichen Demenz, die Iris mehr und mehr mit sich reißt, bis sie schließlich in einem Heim endet.
Rein quantitativ legt der im übrigen überraschend kurze (viel zu kurze) Film die Betonung klar auf diese letzte Lebensphase, auf Johns vergebliche Versuche, den Kontakt zu Iris aufrecht zu erhalten, auf ihre gemeinsame Verwahrlosung, letztlich auf seine Hilflosigkeit im Angesicht der übermächtigen Krankheit. Sie erkennt vertraute Menschen nicht mehr, reagiert und spricht kaum noch, verfällt körperlich sehr stark und gerät durch unkontrolliertes Weglaufen mehrmals in große Gefahr. Es liegt in diesen Szenen eine große Trauer darüber, daß ein einst so intelligenter, geistreicher, lebhafter und lebensfroher Mensch so fürchterlich verfallen kann in jeder Hinsicht, und diese Trauer wird mit großer Eindringlichkeit ausgelebt, hauptsächlich natürlich in dem wirklich sehr bewegenden Spiel von Dench und Broadbent, zwei phantastische Schauspieler, denen man gern stundenlang zusehen würde und die uns das persönliche Drama der Iris Murdoch und ihres im Grunde stets unterlegenen, hilflosen Gatten zum Greifen nahe bringen. Gäbe es nur sie den ganzen Film über, wäre ich vermutlich restlos glücklich gewesen. Aber es gibt eben nicht nur sie, es gibt auch die junge Iris, die kurz nach dem Krieg aus Irland herüber kommt nach Oxford und die dem rotgesichtigen, bebrillten, unerfahrenen und recht verklemmten Mr.Bayley endlose Rätsel aufgibt. Kate Winslet ist in dieser Rolle wirklich faszinierend, so gut, wie ich sie noch nie zuvor gesehen habe, und bei allem Respekt für Judi Dench und die alte Iris hätte ich liebend gern noch viel mehr über die junge gehört und gesehen. Denn: was erfahren wir eigentlich genau über sie? Im Grunde nichts, ausgenommen der wenig interessanten Tatsache, daß sie sich eine ganze Reihe flüchtiger Liebhaber gegönnt hat und dementsprechend zwischen körperlichen und seelischen Belangen zu trennen wußte. Aber sonst sind bei mir schmerzlich viele Fragen offen geblieben: Wer war diese Iris wirklich? Was wollte sie, wie hat sie gedacht, wie hat sie die Welt gesehen, wie die Menschen, vor allem was hat sie daraus gemacht in ihren Werken, was hat sie geschrieben? Immerhin geht es hier um eine anerkannte Schriftstellerin, und also hätte es mir durchaus eingeleuchtet, wenn dies in irgendeiner Form Niederschlag gefunden hätte in der Darstellung ihres Lebens. Ich kenne leider nur zwei ihrer Romane – sie erfreut sich heutzutage in Deutschland offenbar keiner sonderlichen Popularität und ihre Bücher, sofern überhaupt noch verlegt, sind schwer greifbar – und der Film wirft uns ein paar weitgehend aus jedem Zusammenhang gerissene Zitate aus Vorträgen hin, in denen es um Freiheit, vor allem um die Freiheit des Geistes und im weitesten Sinne um die Liebe gehen soll, aber das bleibt eher vage, wird im Film nie mehr aufgegriffen oder in einen faßbaren Zusammenhang gestellt und reicht folglich nie und nimmer aus, um uns eine Frau näher zu bringen, die ja nicht nur als Romanautorin, sondern auch als Philosophin beachtlichen Ruhm erlangt hat, zumindest in der anglophilen Welt. Es wird im Film an einer Stelle darüber gesprochen, wie stark Iris die Menschen ihrer engsten Umgebung in ihre Romane einflicht und sie dort porträtiert, aber leider werden wir auch hier nicht näher eingeweiht. Das gesamte literarische Schaffen der Frau Murdoch bleibt draußen vor, es soll also ein privater, ein persönlicher Film werden, was an sich ja völlig legitim ist, aber doch wohl voraussetzt, daß man sich dann auch dem Objekt des Interesses wirklich einmal nähert. Aber es tut sich fast nichts in dieser Hinsicht. Es gibt reichlich Andeutungen, Anspielungen, Spekulationen, vor allem aus der nervösen, überreizten Sicht des jungen Bayley. Wir sehen ihn schwitzen im Angesicht der hübschen, koketten, rätselhaften und unendlich anziehenden Frau mit den vielsagenden, tiefen Augen und den forschenden Blicken, denen er (und auch wir) sich nicht entziehen kann. Wir sehen charismatische, erotische, mystische Szenen, wir sehen schöne Bilder, wir sehen Iris immer mal wieder irgendwann aufschreiben, oder wir sehen sie häufiger mit John auf einer Fahrradtour oder unter Wasser und wir erleben eine Regie, die sich vor allem darin gefällt, die zwei verschiedenen Zeitebenen elegant und trickreich ineinander zu schieben, mal wirklich gelungen und frappierend, oft genug aber auch recht hölzern und wenig sinnhaft – alles ganz nett als Beiwerk, aber in diesem Film wird daraus unversehens die Essenz, mehr kommt nicht, und das ist eindeutig zu wenig. Bayley steigert sich zwar gelegentlich in seine Verzweiflung hinein und wirft Iris vor, auch noch im Alter, daß er sie nie richtig kennengelernt, daß sie ihn nie richtig in ihre Welt hineingelassen habe, aber dennoch kann ich unmöglich glauben, daß seine Erinnerungen an Iris nicht etwas mehr Substanz haben als das Drehbuch dies erahnen läßt. Ich erwarte keine literaturwissenschaftliche oder philosophische Abhandlung, ich erwarte keine rücksichtslos exhibitionstische Nabelschau, ich erwarte keine vollständige, lückenlose, chronologische Biographie, aber ich erwarte schon, daß ich über den Menschen, um den es hier anderthalb Stunden lang gehen soll, etwas mehr erfahre, daß er mir etwas näher gebracht wird als dies hier der Fall ist. Der Film ist ein gutes und zugleich etwas trauriges Beispiel für behaupteten Tiefgang, oder, anders ausgedrückt, für geschickt kaschierte Oberflächlichkeit, denn der wie gesagt kunstvolle und intensive Darstellungsstil suggeriert viel mehr, als bei genauerer Betrachtung dahintersteckt, und die großartige Qualität der Schauspieler macht sicherlich sehr viel mehr Eindruck, als der Film eigentlich verdient hätte. So muß ich sagen, daß ich doch recht beeindruckt und bewegt war während der Vorführung, daß aber danach ziemlich schnell die Fragen aufkamen, die Leerstellen offenbar wurden und die Erkenntnis, daß dieser Film viel mehr hätte sein können, als er letztlich geworden ist. (27.5.)