„Liam“ (#) von Stephen Frears. England, 2001. Ian Hart, Claire Hackett, Anne Reid, Anthony Borrows
Wie man Stephen Frears‘ filmischen Output der letzten fünfzehn Jahre oder so beurteilt, hängt davon ab, ob man ein Glas als halb voll oder halb leer ansehen möchte. Man mag zufrieden sein damit, daß der Mann zumindest ab und zu mal wieder in England dreht und zurück findet zu alter Form, oder man mag es gerade angesichts dieser gelungenen Werke zutiefst bedauern, daß er andererseits soviel Zeit und Geld in Hollywood an halbgare und sichtlich unpersönliche Projekte wie „Hero“, „Mary Reilly“ oder „Hi-Lo Country“ versemmelt. Was genau diesen Regisseur (und andere Leute wie Boorman, Jordan, Parker oder Schlesinger) so lange schon im Spagat zwischen Hollywood und England hält, war mir immer unklar, zumal die englischen Filme bestimmt ihr Publikum gefunden und damit ihr Geld eingespielt haben. Aber vielleicht ist es noch immer der Reiz der sprichwörtlichen unbegrenzten Möglichkeiten, die viele gute Leute in die Fremde schweifen läßt, wo doch direkt vor ihrer Haustür die besten Geschichten herumliegen – sämtliche der oben genannten Regisseure beweisen dies mit ihren Filmen seit etlichen Jahren.
Auch Mister Frears hat diesen Beweis einmal mehr angetreten mit seinem jüngsten Projekt, einer Kindheitsgeschichte aus dem Liverpool der verarmten Arbeiter in den späten Dreißigern. Massenarbeitslosigkeit, Entlassungen und der verzweifelte Kampf um jedweden Hilfsjobs mit jedweden Mitteln kennzeichnen das Leben dieser Leute, die Dauergäste beim Pfandleiher und auch in der Kirche sind. Liams Eltern sind streng katholisch, die Erstkommunion des Jungen eine Pflichtübung, für die auch der letzte Penny noch geopfert wird (Erinnerungen an Ken Loachs „Raining Stones“ werden hier kurzzeitig wach), Mama, Tochter und Liams schlurfen regelmäßig zur Beichte und in der Schule malen Lehrerin und Pfaffe den verschreckten Kindern genüßlich sämtliche Details des dräuenden Höllenfeuers aus – Katholizismus also, wie er selbst in Irland nicht repressiver sein könnte. Und doch haßt Liams Vater die Iren, denn sie nehmen ihm, so glaubt er jedenfalls, die Jobs weg. Er haßt auch die Juden, denn die haben das Geld, schicken ihre Eintreiber und besitzen die Werften, die je nach Laune die Männer auf die Straße treten oder auch nicht. Weil er mit seinem Zorn nicht allein ist, tauchen bald an vielen Straßenecken in den entsprechenden Vierteln Schwarzhemden auf und polemisieren gegen Fremdarbeiter, gegen Juden, gegen den Verrat am englischen Vaterland. Was der gute Papa nicht weiß, ist, daß seine Tochter bei einem Juden putzt und wäscht, und als er sich eines Tages dem Nazimob anschließt, um die Aggressionen endlich mal rauszulassen, sucht man sich ausgerechnet jene Villa aus, in der sich gerade die Tochter aufhält. Das Mädchen kriegt den Molotowcocktail ab, kommt mit entstellenden Verbrennungen davon und die Familie ist fortan zerstört. Liam, ein kleiner, stotternder, manchmal gewitzter und manchmal hilfloser großäugig staunender Junge, beobachtet vieles, versteht aber nur das wenigste. Mal helfen ihm sein kindlicher Charme und seine spontane Frechheit aus der Klemme, doch vielen Dingen stehen er und seine beiden älteren Geschwister er machtlos gegenüber. So gesehen steht Frears‘ Film in einer ebenso langen wie hervorragenden und besonders in Skandinavien gepflegten Tradition von Geschichten über Kinder, die versuchen müssen, irgendwie mit der Welt und den Taten der Erwachsenen klarzukommen, und die über diese Erfahrung selbst älter, erwachsener und auch ein Stückchen illusionsärmer werden. Frears kombiniert dieses Element mit typisch britischen Milieustudien, knapp und präzise, sehr eindringlich und emotional geschildert und glücklicherweise auch ohne jede nostalgische Beschönigung. Witziges und Trauriges rücken ganz eng zusammen, manchmal denkt man an die wunderbaren Filme von Terence Davies, vor allem bei den Gesangszenen, wie zum Beispiel jenem Duell zweier leicht erhitzter Damen, die sich Kampflieder der IRA bzw. des Orange Order um die Ohren grölen und von den Gatten gewaltsam getrennt werden müssen. Solche wirklich lustigen Momente verdrängen aber nicht einen eher schwermütigen, melancholischen Gesamteindruck, denn die Arbeitslosigkeit des Vaters und sein daraus resultierender politischer Irrweg stürzen die Familie schließlich in den Untergang, und am Schluß ist die Wohnung fast leergepfändet und der Vater geht, nachdem er sie verunstaltete Tochter noch einmal gesehen hat, wohl für immer aus dem Haus. Frears hütet sich dabei vor einseitigen Urteilen oder Anklagen, er vertieft sich in die Situation jedes einzelnen Familienmitgliedes mitfühlend und sehr intensiv, und das bei einem gerade mal neunzig Minuten kurzen Film, der für mein Gefühl durchaus deutlich länger hätte sein können. So entfaltet er eben seien Qualitäten auf etwas engem, knappem Raum, wo ich mir gelegentlich etwas mehr Zeit für Details gewünscht hätte. Diese Qualitäten verraten den Regisseur Frears, der einst in den mittleren Achtzigern durch seine brillanten und scharfzüngigen Sozialstudien bestach: Exakte Milieudarstellung, klare politische und humanistische Stellungnahme, die Kunst, komplexe Dinge in griffige, mitreißende Szenen zu fassen und die Kunst, mit Darstellern so umzugehen, daß sie uns sehr nahe kommen und am Schluß sehr am Herzen liegen. Also einer der besten Frears-Filme, aber vielleicht währt die Freude darob wieder nur bis zum nächsten Hollywoodprojekt des Herrn. (16.1.)