„Scherbentanz“ von Chris Kraus. BRD, 2002. Jürgen Vogel, Nadja Uhl, Margit Carstensen, Peter Davor, Dietrich Hollinderbäumer, Andrea Sawatzki, Roxanne Borski
Man kennt solche Familiendramen eigentlich zur Genüge: Da trifft man sich auf irgendeinem vornehmen Landsitz, und alsbald bröckeln die Fassaden und zutage treten Haß, Neid, Inzest, Mord und Totschlag, um nur einige Optionen aufzuführen. Meistens enden solche Konstellationen tragisch, sprich mit dem Tode eines oder mehrerer Beteiligter, alle Konflikte werden restlos auf den sprichwörtlichen Tisch gepackt, alle haben ihre Seelen entblößt bis zum Gehtnichtmehr, und im Zuschauerraum beglückwünscht man sich insgeheim, daß man selbst nicht Teil einer solchen Monsterversammlung ist. Als Kinofilm kommt zumeist Pathetisches dabei heraus, Schwülstiges, Bergman für Arme, schwachbrüstige, lachhaft unglaubwürdige, furchtbar übertriebene Ödipalklamotten oder sonstiges, jedenfalls ganz allgemein kaum Erfreuliches.
Genau so hätte auch dieser Film werden können, doch wie durch ein Wunder ist es nicht so gekommen. Sämtliche Anlagen zu schwerblütigem Gruselkabinett sind vorhanden, keine Frage: Der krebskranke verlorene Sohn, der heim zum übermächtigen Papa und dem Erben, dem erfolgreichen Bruder kommt. Dann die psychotische, schwer gestörte Mama, die nach langen Jahren in der Obdachlosigkeit und Anonymität wiedergefunden und ebenfalls heimgebracht wurde, um nun dem Sohnemann heilbringendes Knochenmark zu spenden. Dann die angehende Schwägerin, eine Ex-Nymphomanin, die sich schließlich zum anderen Außenseiter hingezogen fühlt und außerdem von der Familie als nicht recht standesgemäß eingestuft und entsprechend abserviert wird. Dann noch quasi als Würze ein paar Randfiguren: Die Haushälterin, Mutter eines unehelichen Sohns vom Herrn Papa, oder der zopftragende Chauffeur, der aus der Vergangenheit der Ex-Nymphomanin entsprungen ist und nun für ein paar rohe Zwischentöne sorgt. Und dann natürlich all das, was sich so auf der emotionalen Ebene zwischen den charakterlich doch sehr verschiedenen Familienmitgliedern abspielt: Die Erinnerung an die schlimme Zeit mit der gestörten Mama, an die zerbrochene Ehe, an die Gewaltausbrüche, die Mama schließlich in die Psychiatrie und die Kinder ins Internat schickten, undsoweiter. Die schwer gezeichnete Mama haust nun wie ein böser Geist in dem großen Haus, aggressiv, verstört, von vagen Erinnerungen geplagt und eigentlich nur deshalb geduldet, weil man sich Heilung für den jüngeren Sohn verspricht. Der wiederum hat sich ebenfalls seit längerem vom Stamm losgesagt, vom Papa und dem älteren, früher sehr bewunderten Bruder, denn die beiden sind kalte, berechnende, egoistische Fische, Geschäftsleute, Karrieremänner, die andere Menschen benutzen, wie es ihnen paßt. Jedenfalls präsentiert sich uns eine nach außen wohlhabende und angesehene, im kern jedoch längst verfaulte und zerrüttete Familie, die alle Risse in den Mauern zu übertünchen versucht, und dabei wohl auch erfolgreich bleiben wird: Mama, der Freak, wird zu Grabe getragen als sie ihre Pflicht erfüllt, also das Mark gespendet hat. Die Ex-Nymphomanin verschwindet von der Bildfläche und ein passenderes Püppchen wird dem Sohnemann an die Seite gestellt. Und die Hochzeitsfeier darf dann wieder im großen Rahmen stattfinden, ganz wie es die gesellschaftlichen Normen vorsehen.
Der Regisseur des Films ist identisch mit dem Autor der Romanvorlage, also darf man davon ausgehen, daß der Mann seine Absichten halbwegs optimal umsetzen konnte. Er verdankt die Wirkung des wirklich spannenden und streckenweise recht beeindruckenden Films weitgehend seinen erstklassigen Schauspielern. Vor allem die Frauen sind brillant – Nadja Uhl, Andrea Sawatzki und allen voran Margit Carstensen in einer ziemlich unvergeßlichen, bravourös gestalteten Rolle, die es so schon lange nicht mehr in deutschen Filmen zu sehen gab. Die Männer sind mit Ausnahme des sehr angenehm zurückhaltend spielenden Jürgen Vogel dagegen ein wenig blaß, vor allem der Vater bleibt vage, ein Unbekannter, dessen Nazivergangenheit lediglich angedeutet, aber niemals näher ausgeleuchtet wird, was ich etwas schade fand. Der Autor/Regisseur hält sich ansonsten genau dort zurück, wo es sein muß, er überzieht die Effekte nicht, betont das potentiell Schrille nicht noch, dämpft seinen Stil da, wo andere erst richtig grelle Exzesse zelebriert hätten. So schafft er es, daß eine an sich eher abwegige Ansammlung von Dramen und Konflikten doch nicht lächerlich oder überzogen wirkt, sondern daß trotz allem das Menschliche, durchaus auch das Tragische zum Zuge kommt, daß wirkliche und echte Gefühle durchdringen, daß das Melodrama bei alledem nicht grotesk und kitschig wird, sondern seine Würde behält. Ein unkonventioneller Film, der sich aus alten Mustern speist, aber sehr gut die Kurve in die Moderne gekriegt hat. (4.11.)