„Hable con ella“ (Sprich mit ihr) von Pedro Almodóvar. Spanien, 2002. Javier Cámera, Darío Grandinetti, Leonor Watling, Rosario Flores, Geraldine Chaplin
Der dumme Vergleich mit dem alten Wein, der immer besser wird – auf Almodóvar trifft er doch tatsächlich zu! Von seinen Anfängen, den zweifellos vergnüglichen, schrillen, ausgelassenen, verrückten, respektlosen Freakshows, bis hin zu einem so zarten, wunderbaren Melodram wie „Alles über meine Mutter“ sind nicht nur ein gutes Dutzend Jahre vergangen, sondern ist auch ein gehöriger Reifeprozeß geschehen, und so unterhaltsam und sexy die alten Filme auch sein mögen, die jüngeren sind mir weitaus näher. Es sieht fast so aus, als traue sich Almodóvar erst jetzt, seit einiger Zeit, seine Gefühle ungefiltert, ungetarnt in Filmen zu äußern – oder vielleicht ist er auch einfach nur ein wenig gesetzter geworden, egal.
Dieser neue Film jedenfalls ist vielleicht sein bislang schönster, ein Exerzitium in purer Emotion. Da ist Alicia, die allzu früh aus einer vielversprechenden Karriere als Tänzerin gerissen wird, da ist die harte, verbitterte Lydia, die der eigenartigen, eitlen Todessehnsucht ihres Gewerbes zum Opfer fällt und nach einiger Zeit auch stirbt, da ist der gutmütige, mutterfixierte Benigno, der eine waschechte amour fou auslebt, jedoch niemandem wehtun möchte und sein Leben dieser Liebe widmet, und schließlich Marco, der Mann, der auch mal weinen kann, der ebenfalls an den Erinnerungen an eine schmerzhafte Trennung leidet: Zwei Frau im Koma – eine Ballerina nach einem Autounfall und eine Stierkämpferin nach einem verlorenen Duell in der Arena – und zwei Männer, die sie lieben – ein Pfleger und ein Reisejournalist. Der Pfleger kümmert sich schon seit vier Jahren um die Tänzerin und hat zu ihr eine obsessive Beziehung entwickelt, hat keinen anderen Lebensinhalt mehr, als sich aufopferungsvoll in jeder Minute seiner Zeit um die junge Frau zu kümmern. Doch er geht zu weit, er schläft mit ihr, macht ihr ein Kind, kommt ins Gefängnis und verübt dort Selbstmord, will sich eigentlich durch Tabletten auch ins Koma versetzen, um der Geliebten so nah wie möglich zu sein. Was er nicht weiß: Die junge Frau erwacht bei der Geburt und kann wieder ein normales Leben führen. Der Journalist hat zwar mit seiner Stierkämpferin weniger Glück – sie hatte sich vorher schon mit ihrem Exgatten versöhnt -, doch er wird des Pflegers engster und einziger Freund, bleibt bei ihm, als alle anderen sich von ihm abwenden, und kann am Schluß vielleicht sogar der Freund der wieder erwachten Ballerina werden.
Ich habe das, glaube ich, beim vorherigen Almodóvar-Film auch schon mal gefragt – wer außer diesem Kerl könnte es sich leisten, eine solche Geschichte zu erzählen, ohne in reinen Trash, in unbändigen Kitsch oder in sonst irgendeine bodenlose Geschmacksverirrung abzurutschen? Ich behaupte mal, daß niemand außer ihm das könnte, und daß der Mann auf diesem Gebiet wirklich eine einmalige Gabe hat: Er kann uns selbst absurdeste, abwegigste, skurrilste Typen und Obsessionen präsentieren und es fertigbringen, daß wir all das ganz normal und verständlich finden. Was so gut wie jedem anderen Regisseur zur peinlichen Lachnummer oder zur öden Kitschorgie misraten würde, wird bei Almodóvar zu einem vollendet schönen Film, der selbst hartgesottenen Gefühlsverweigerer wie mir einen dicken Kloß in den Hals sacken läßt und sogar mir arg zu Herzen geht. Die lauten, hektischen Töne von einst sind verschwunden aus seinen Geschichten, es herrscht ein ruhiges, mildes Tempo vor, es herrschen Wärme und Zärtlichkeit, eine Art meditativer Gelassenheit, die man vielleicht erst wirklich mit den Jahren erlangt. Selbst die merkwürdigsten Ereignisse geschehen mit vollkommener Selbstverständlichkeit, und selbst die eigenartigsten Leute sind so nett und warmherzig zueinander, daß man sie einfach lieben muß und zu keiner Zeit auf die Idee käme, sie für irgendetwas zu verurteilen. Auch dies also, Almodóvars häufig erwähnte, zu recht häufig erwähnte, Liebe zu seinen Figuren, hat heutzutage eine andere Qualität, kommt vor allem ohne ständige Nervenzusammenbrüche oder Slapstickeffekte aus. Man kann sich hinsetzen und genießen, und dieser Film ist reiner Genuß, vom Anfang bis zum Ende. Ein wesentlicher Bestandteil, neben den wieder einmal großartigen Schauspielern, ist die Musikalität des Regisseurs. Es gibt einige längere, fantastische Tanzszenen von Pina Bausch und ein berauschend schönes Lied, vorgetragen von Gaetano Veloso, das an sich vielleicht gar keine essentielle Bedeutung für den Fortgang der Geschichte hat, aber einfach nur gänsehautverdächtig ist und damit seine volle Berechtigung hat. Die Kunst, die Exaltiertheit, das Leben, die Liebe, das Leiden, der Tod, die Leidenschaft, all dies sind seit jeher Zutaten von Almodóvars Filmen, doch kaum jemals befanden sie sich in solch vollendeter Balance wie hier, kaum jemals hat mich der Knabe so gerührt, fasziniert, bewegt wie diesmal. Ohne Zweifel einer der allerschönsten Filme des Jahres bislang. (4.9.)