„Tanguy“ (Tanguy – Der Nesthocker) von Etienne Chatiliez. Frankreich, 2001. Sabine Azéma, André Dussollier, Eric Berger, Hélène Duc, Aurore Clément
In all seinen bisherigen Filmen, vor allem in „Das Leben ist ein langer ruhiger Fluß“ und „Tante Danièle“ (Der dritte, „Das Glück liegt in der Wiese“, ist mir irgendwie nicht mehr so präsent), hast sich Etienne Chatiliez als glänzender Satiriker in Sachen bürgerlicher Umgangsformen und –normen erwiesen, der mit ebenso viel Fingerspitzengefühl wie schwarzem Humor und einem erfrischenden Mangel an Respekt einige heilige Kühe der allgemeinen Menschheit aufs sprichwörtliche Korn nimmt (sowas wie Toleranz, Respekt vor dem Alter, Nächstenliebe, Familienbande undsoweiter) und daraus einige der komischsten Filme der letzten Jahre gemacht hat – leider nur sehr wenige, wenn man bedenkt, daß seit seinem Erstling bestimmt schon fünfzehn Jahre vergangen sind und er seitdem nur drei weitere Filme gedreht hat – jedenfalls soweit ich weiß. „Tanguy“, der neuste Film also, bleibt dem Konzept des Regisseurs absolut und in jeder Hinsicht treu, und wieder ist eine köstliche, schadenfrohe, genüßlich anti-bürgerliche Komödie entstanden, die sogar einem Luis uñuel hätte gefallen können: Tanguy Getz, hochintelligent, begabt, sexy, reich, erfolgreich etc. lebt mit achtundzwanzig Jahren noch immer bei seinen Eltern, und so langsam werden Maman und Papa ein wenig ungeduldig. Angestachelt vom fiesen und beharrlichen Spott der Großmama reift in den beiden der Entschluß, den verwöhnten, stinkfaulen und gutmütigen Sprößling in Kürze in die Unabhängigkeit zu entlassen, und da nicht anzunehmen ist, daß der Herr Sohn diesen Schritt aus freien Stücken unternehmen wird, denken sich die Eltern allerlei Tricks und kleine Gemeinheiten aus, um ihm das Leben daheim möglichst gründlich zu verleiden. Leider haben sie nicht damit gerechnet, daß sich seine jahrelangen Chinastudien so tiefgreifend auf seinen Charakter ausgewirkt haben, daß er jeden noch so heben Schicksalsschlag mit wahrhaft philosophischem Gleichmut und einer jeweils passenden alten chinesischen Weisheit beantwortet. Maman und Papa treiben unaufhaltsam auf den großen Nervenzusammenbruch zu, und sie müssen ganze Arbeit leisten, bis sie doch irgendwie an ihr Ziel gelangen. Am Schluß landet der Herr Sohn in Peking bei einem süßen Mädchen, das unter dem Herzen bald die Frucht eines weiteren Nesthockers trägt.
Chatiliez zeigt hier auf seine charakteristische Weise, wie grenzenlose Eltern-Kind-Liebe schön langsam in ebenso grenzenlosen Haß und Wahnsinn umschlagen kann – gerade die Mamas sind ja in jeder Hinsicht extrem, erst die reinsten Glucken, später dann die wildesten Furien. Vor allem im Mittelteil gibt es eine Fülle brillanter, umwerfend witziger Szenen, eine Mischung aus Slapstick und makaberer Satire, wobei immer schön kräftig an der lackierten Fassade der oberen Zehntausend der Gesellschaft gekratzt wird. Jahrelang wahren Maman und Papa die Contenance, stecken allerlei spitze Bemerkungen aus ihrem Umfeld weg, geben sich voll und ganz dem harmonischen Familienleben mit all seinen absurden und längst sinnentleerten Ritualen hin und dulden wie selbstverständlich, daß Sohnemann alle paar Tage eine andere Dame an den Frühstückstisch schleppt (die unvermeidlichen und sehr eindeutigen Geräusche der Nacht davor dulden sie natürlich ebenso). Man ist bourgeois, großzügig, offen, tolerant und natürlich reich, also gibt es kein Problem. Wenn dann diese Fassade nach einigem Kampf dann doch einmal niedergerissen worden ist, fällt das Resultat um so heftiger aus: Endlich sind alle Hemmungen gefallen, endlich dürfen die gepeinigten Eltern ihren wahrsten, tiefsten Gefühlen freien Lauf lassen, und genau das tun sie dann auch, nur noch gelegentlich von schlechtem Gewissen geplagt. Wie Dussolier und vor allem Azéma, die ja immer schon eine geniale, hinreißend clowneske Komödiantin war, das spielen, lohnt allein den ganzen Film, eine tolle Duonummer, vor allem dann, wenn sich die beiden diebisch über jede neue gelungene Attacke freuen, wenn hinter der wohlanständigen Maske der Zivilisation die pure Rachelust durchbricht, wenn beide auch die letzten moralischen Instanzen, die sie als Eltern bislang fest im Griff gehabt hatten, überwinden und längst aufgestaute Aggressionen freilassen. Wie gesagt, vor allem der mittlere Teil und allgemein die erste Stunde sind vortrefflich und höchst amüsant, während es gegen Ende dann doch ein paar Längen gibt. Schon in „Tante Danièle“ war das aufgefallen, daß eine einzige Grundidee selbst in vielfältigsten Variationen nicht unbedingt einen ganzen langen Film tragen muß, und so ist es auch hier. Wenn also Chatiliez vielleicht eine gute Viertelstunde eher aufgehört hätte, wäre der Spaß noch konzentrierter und größer ausgefallen, so aber ist dennoch auf jeden Fall ein köstlich witziger und in vielen Szenen haarscharf ins Ziel treffender Film entstanden, der hoffen läßt, daß bis zu Chatiliez‘ nächstem Werk nicht wieder so viele Jahre vergehen werden. (3.6.)