„The Navigators“ (#) von Ken Loach. England, 2001. Dean Andrews, Thomas Craig, Joe Duttine, Steve Huison, Juliet Bates

Gewöhnlich macht Ken Loach es so, daß er starke, sehr berührende und/oder tragikomische Einzelschicksale verknüpft mit einer ebenso starken und berührenden sozialen und/oder politischen Aussage. Auf diese Weise sind eine Menge großartiger englischer Filme entstanden, engagierte Filme, Filme mit einer Botschaft, trotzig gegen den allgemeinen Trend gesetzt, der dahin geht, daß Botschaften uncool und ziemlich out sein müssen. Wer also cool und in sein will, braucht sich einen Film von Ken Loach gar nicht erst anzusehen, wer sich andersherum noch ein Fünkchen für Mensch und Gesellschaft interessiert, sollte keinen davon verpassen.

Auch den hier nicht, auf gar keinen Fall, obwohl er auf den ersten Blick ein wenig anders ist als seine Vorgänger. Loach stellt diesmal, ein wenig wie vor zehn Jahren in „Riff-Raff“, ein Kollektiv in den Mittelpunkt, ohne einzelne Schicksale betont herauszuheben. Zwar wirft er hier und da einen Blick in die Privatwohnungen der Männer, auch in ihre Schlafzimmer, doch bleibt er nicht dran, er zieht sich vielmehr zurück, um wieder der Gruppe als Ganzes seine Aufmerksamkeit zu schenken. Dies mag zunächst verhindern, daß wir uns besonders mit einer der Personen identifizieren, um so vielleicht einen intensiveren Zugang zur Geschichte zu finden, aber auf der anderen Seite ermöglicht es einen fabelhaft klaren Blick auf Strukturen, und genau darum geht es in diesem Film. Und das mit dem Hineinfinden in die Story kommt von ganz alleine, sofern man etwas damit anfangen kann, und das kann ich in der Tat.

Die Gleisbauarbeiter von British Rail in Sheffield stellen eines Morgens überrascht fest, saß sich nicht mehr für British Rail arbeiten, sondern für eine andere Firma mit hochgestochenem Namen. Und ihre Kollegen, mit denen sie seit Jahr und Tag zusammenarbeiten, sind plötzlich in einer anderen Firma mit einem ebenso hochgestochenen Namen, also bei der Konkurrenz, was bedeutet, daß man sich fortan aus dem Wege gehen muß. Die Dinge entwickeln sich ziemlich schnell: Vielen Männern wird eine sofortige Kündigung nahe gelegt, die übrigen werden von Anzugträgern, die sie niemals zu Gesicht bekommen, stark unter Druck gesetzt. Es geht plötzlich um Wettbewerb, mehr Leistung, mehr Effektivität. Angesichts der Anhäufung von Kürzungen und Einschränkungen kündigen immer mehr Männer, heuern bei anderen, nicht weniger dubiosen Unternehmen an, und schließlich wird der Druck so groß, daß der Unfall eines Kollegen am Gleis verschleiert wird, und auch als der Mann stirbt, darf die Wahrheit nicht ans Licht kommen, weil sonst die anderen ihren Job los wären.

 

Ein englischer Film zwar, in Tonfall und Milieu auf die dortigen Verhältnisse zugeschnitten, in der Thematik jedoch von geradezu erschreckender Allgemeingültigkeit. Wieviele Arbeitnehmer müssen so etwas heutzutage erfahren: Plötzlich heißt die Firma anders, gelten andere Regeln, fallen eben jene fürchterlichen Vokabeln von Wettbewerb, Qualität, Effizienz, und werden an allen Ecken und Ende kleinere und größere Schikanen eingebaut, um lästige Mittarbeiter und vergraulen und nur die zu halten, die sich wirklich total aufopfern, die alles mit sich machen lassen und deshalb die begehrtesten Arbeitskräfte sind. Wer Mitglied einer Gewerkschaft oder des Betriebsrates ist, kann sich auf einiges gefaßt machen, wer aufzumucken wagt auch, und all die Beschlüsse werden gefaßt von Männern im Hintergrund, die der einfache Lohndiener niemals zu Gesicht bekommt, die sich vielmehr Sprachrohre halten, Mittelsmänner, die die Direktiven nach unten weitertreten müssen und ihrerseits genauso unter Druck stehen wie die Sklaven ganz unten. Diese Sklaven müssen buchstäblich um die Existenz kämpfen, sind auf jeden Penny angewiesen und deshalb auch so erpreßbar. Ihr Privatleben leidet darunter, Beziehungen und Familien zerrütten vielfach und die getrennten Ehepartner mitsamt der Kinder kommen kaum noch über die Runden. Wer glaubt, daß Loach übertreibt oder nur polemisiert, hat noch nie erfahren, wie es zugeht in der modernen freien Wirtschaft, im Zeitalter der Dienstleistung und der großen Freiheit, jetzt, da in Krisenzeiten einfach alles erlaubt ist, um den Karren auf Kurs zu halten. Da kommen die Controller von außen, da wird gestrafft, neu strukturiert, umgeschichtet, da wird fusioniert, da entstehen neue Konzerne, und was immer auch passiert, eins kann den einfachen Mitarbeitern klar sein: Für sie wird sich nichts, rein gar nichts verbessern, sie können im Gegenteil froh sein, wenn sie ihren Job überhaupt behalten und nicht allzu happige Opfer dafür bringen müssen. So ist der Stand der Dinge, in England und überall sonst, und Loach stellt dies nüchtern, unpathetisch und sachlich fest, ein Film von geradezu universeller Dimension, der die Form klar in den Dienst des Inhaltes steht, der einfach, direkt und unkompliziert ist, mit einem Schauspielerensemble, das diesem Konzept aufs beste gerecht wird. Und der es fertigbringt, trotz allem noch Raum für sehr witzige und charmante Episoden zu schaffen, wenn die Jungs ihre Späße miteinander machen, hauptsächlich natürlich am Anfang, als ihnen der Ernst der Lage noch nicht zu Bewußtsein gekommen ist. Sicherlich ist der emotionale Aspekt diesmal eher zurückgenommen, dennoch war ich persönlich sehr getroffen und bewegt von alldem, weil es mir so bekannt vorkommt, weil es tagtäglich überall zu hören und zu lesen ist, weil einfach die Zeiten so sind und man mit Recht befürchten darf, daß alles noch ärger wird. Gerade im Moment spricht mir der Film voll und ganz aus der Seele, und deswegen halte ich ihn auch für unverzichtbar - Gegenwartskino im allerbesten, essentiellen Sinn. (11.12.)