I cento passi (100 Schritte) von Marco Tullio Giordana. Italien, 2000. Luigi Lo Cascio, Luigi Maria Burruano, Lucia Sardo, Tony Sperandeo, Paolo Briguglia, Andrea Tidona

   Wenn solch ein Film mit nur dreijähriger Verspätung bei uns im Kino zu sehen ist, dann darf man heutzutage nicht mehr darüber meckern, sondern muß sehr dankbar sein, daß sich ein netter Verleih bereit gefunden hat, ein solch immenses kommerzielles Risiko auf sich zu nehmen. Also: Danke, lieber Verleih.

   Außerdem muß man natürlich auch dankbar sein, daß es immer mal wieder solch gute und bewegende politische Filme aus Italien gibt, wo ja zumindest ein Thema leider immer noch und immer wieder aktuell ist und dies wohl auch bis ans Ende aller Tage bleiben wird, nämlich die Mafia und der Kampf gegen sie. Einer dieser Kämpfer, der wie viele andere daran gestorben ist, wird hier porträtiert, in sizilianischer junge namens Peppino Impastato aus dem kleinen Dorf Cinisi, der wie alle in feste gesellschaftliche Strukturen hineinwächst: Vor Ort regieren die Mafiosi, und wer sich gegen sie stellt oder zu mächtig wird, muß früher oder später sterben. So ergeht es beispielsweise Peppinos großtuerischem Onkel, dessen Grandezza kurzfristig von einer Autobombe beendet wird, und so ergeht es allen, die sich den Plänen der Mafia, die natürlich auch die wirtschaftlichen Geschicke lenkt, entgegenstellen. Peppinos Papa hat sich mit den Mächtigen arrangiert, hält sich an die Regeln und erwartet von seinen beiden Söhnen das gleiche. Der jüngere Bruder scheint sich eher in die Ordnung einfügen zu wollen, doch Peppino der Ältere rebelliert: Einhundert Schritte, so demonstriert er seinem kleinen Bruder, braucht er von der eigenen Haustür zu der des Mafiabosses Don Tano, einhundert Schritte, während derer man sich entscheiden muß für oder gegen das System. Er kündigt seinem Vater den Gehorsam und brüllt seinen Haß und seine Verachtung auf die Mafiosi öffentlich heraus. Und er geht noch weiter, indem er mit einigen guten und gleich gesonnenen Freunden einen kleinen privaten Radiosender gründet und von Stund an giftige, höhnische Angriffe auf Don Tano losläßt, und zwar mit einer Ausdauer und Unerbittlichkeit, die zum Teil sogar seinen Mitstreitern unheimlich ist. Damit treibt er in die eigene Familie natürlich einen tiefen Keil, zumal sich seine Mutter eher auf seine Seite schlägt und der Bruder lieber den inneren Frieden wahren möchte. Papa verläßt sein Heim, gerät seitens der Mafia stark unter Druck und wird schließlich ermordet. Peppino geht seinen Weg unbeirrt weiter und stirbt schließlich ebenfalls, in die Luft gesprengt auf Bahngleisen. Das war 1977, und es dauerte fast zwanzig Jahre, bis seine Ermordung von der italienischen Justiz endlich als solche anerkannt und ein Schuldiger dafür verurteilt wurde, doch wie man weiß, ist Peppino nur ein weiterer Märtyrer unter vielen.

   Nach alter italienischer Tradition geht der Film sehr emotional und temperamentvoll zu Werke. Zum einen besticht er als wundervoll farbig gezeichnetes Zeitporträt – Siziliens Provinz in den Sechzigern und Siebzigern mitsamt Rock’n Roll, Eric Burdon, Procol Harum, Janis Joplin und was sonst die Bambini in Wallung brachte, später dann die Hippies, die sogar bis hierher schwappten und selig beduselte Verwirrung sorgten, und gleichzeitig die Bedeutung der Kunst für die politische und geistige Bewußtwerdung der Leute, Francesco Rosis Filme, Pasolinis Gedichte und dergleichen. Diese oft sehr witzigen und schönen Momente wiegen aber nicht die anderen auf, die harten und ernsten Töne, die mit gleichem Engagement inszeniert werden. Peppinos Kampf, der von fast unglaublicher, schier selbstmörderischer Zivilcourage zeugt, ist ein Kampf gegen alte Strukturen und Traditionen, und obgleich er dabei zu Tode kommt, würde wohl niemand grundsätzlich von einem vergeblichen Kampf sprechen. Natürlich stoßen die wüsten, äußerst provokanten Aktionen der Gruppe bei den lokalen Betonköpfen bestenfalls auf ärgerliches Kopfschütteln, aber bei den jüngeren regen sie schon den einen oder anderen Gedanken an, und genau darum geht es ja, nämlich die Leute zum Nachdenken zu bringen und dazu, nicht alles, was sich hier seit Generationen festgesetzt hat, als gottgegeben und unabänderlich anzusehen. Zwischen Vater und Sohn entwickelt sich dieser Konflikt ganz exemplarisch: Der Vater, der es nie gewagt hätte, die Ordnung in Frage zu stellen und der auch gut von ihr lebt, ist gespalten zwischen Wut und Liebe seinem Sohn gegenüber, er will ihn einerseits verstoßen, ihn aber andererseits auch beschützen vor dem, was, wie er genau weiß, eines Tages passieren muß. Und er weiß auch, daß es ebenso um sein eigenes Leben geht, denn Don Tano erwartet von ihm als gutem sizilianischen Patriarchen natürlich, daß er seinen Sohn unter Kontrolle hat, und daß die Geduld der Mafia auch mit ihm irgendwann ein Ende haben muß.

 

   Somit spielt sich das Drama dieses Films auf allen beteiligten Ebenen ab – Gesellschaft, Familie, Individuum, und sie ale werden souverän zusammengeführt, wobei beachtlich ist, daß nicht das sonst so gern einsetzte Pathos herrscht, sondern vielmehr ein trockener, sehr bissiger und grimmiger Humor, ähnlich dem, den Peppino an den Tag legt, und daß Peppino keineswegs als Held idealisiert wird, sondern sehr wohl auch seine Schwächen zu Tage treten. Überhaupt enthält sich der Regisseur großer Effekte oder unnötiger Lautstärke, er verläßt sich völlig zu recht auf seien Darsteller und die Kraft der Geschichte, die er klar und ohne billige Kompromisse erzählt. Aus Italien kommen seit Jahren regelmäßig recht wenige, dafür aber zum größten Teil sehr sehr gute Filme, und ich hoffe doch, daß sich dies in absehbarer Zeit nicht ändern wird. (11.9.)