Cidade de deus (City of God) von Fernando Meirelles. Brasilien, 2002. Matheus Nachtergale, Alexandre Rodrigues, Seu Jorge, Douglas Silva

   In den 60ern wird in den großen brasilianischen Städten, vor allem natürlich in Rio de Janeiro, Ordnung geschaffen: Ganze Viertel werden abgerissen, bzw. im offiziellen Sprachgebrauch saniert, die Einwohner, sprich der Pöbel, den man nicht für Business und Tourismus nutzen kann, wird in neu hochgezogene Vorstadtghettos gepfercht, wo sich fortan alles bündelt, was nicht gerade auf die Sonnenseite des Lebens gehört. Die Folgen sind logisch und in jeder anderen Großstadt in jedem anderen Land der Welt in genau dieser Form anzutreffen: Kriminalität, Armut, Überlebenskampf, Diskriminierung, Ausgrenzung und Korruption.

   Davon erzählt dieser Film, von fünfundzwanzig Jahren Kampf in den Straßen, Kampf zwischen rivalisierenden Drogenbanden. Es beginnt Ende der 60er mit ersten, fast noch harmlosen Einbrüchen und Überfällen, doch rasch wird die Grenze zum Mord überschritten, und von dort an gibt es kein Halten mehr. Jeder Junge über zehn wird mit einer Schußwaffe ausgerüstet und einer Gang zugeordnet, ein willkürlich kodierter Reigen von privater Rache, Territorialkämpfen und Sippenhaft tritt in Kraft, und all dies unglaublich brutale Treiben wird befeuert von geldgierigen Polizisten, die massenweise Waffen ins Ghetto verschieben und ordentlich abkassieren, während die Kollegen dann die Leichenberge fortkarren und ihrerseits die Sterberate mit gleichsam rücksichtslosem Einschreiten kräftig aufbessern. Ein System, das fest zementiert ist in der sogenannten Stadt der Götter, wie dieses spezielle Ghetto gern genannt wird, und das getreu übernommen wird von jeder neuen Generation, die sich allerdings auch darum bemüht, die Schreckensschraube noch einmal weiter zu drehen.

   Diese Geschichte, die offensichtlich auf wahren Begebenheiten basiert, wird nicht von oben erzählt, sondern von einem, der dabei war, der immer ein wenig zwischen den beiden großen Gangs stand und endlich seinen Weg als Fotograf findet, und in dieser Funktion am Ende vor dem entscheidenden Dilemma steht: Was soll ich zeigen, soll ich die durchsiebte Leiche des Bandenbosses zeigen, oder doch die Szene zuvor, wie er nämlich von den Bullen gegen gute Bezahlung laufen gelassen wird. Zeigt man also die „bequeme“ Wahrheit, die man nachher auf die Titelseite setzen kann, oder die „unbequeme“ Wahrheit, die einem dann noch viel Ärger mit der Polizei einbringen könnte. Klar, wie der Mann sich entscheidet, denn er will überleben und davon berichten, wie es weitergeht: Der bewußte Bandenboß, der jahrzehntelang einen blutigen Terror über das Viertel gebracht hatte, wird nun seinerseits von kleinen Kids niedergemäht, die am Schluß in einer ganz typischen Szene fröhlich triumphierend durch die Straßen ziehen. Nun haben sie das Heft in der Hand und können schon mal eine Todesliste all jener aufstellen, die ihnen irgendwann mal blöd gekommen sind und dafür  sterben müssen. Der Kreislauf geht weiter und er wird noch schlimmer kommen, doch der Ton des Films bleibt scheinbar locker, fast gut gelaunt, während der Zuschauer sprachlos und schockiert zusieht. Hier wird kein elegisches, anklagendes Sozialkino vorgeführt, sondern ein ungemein dynamischer, vitaler, sarkastischer und drastischer Reigen endloser, wahnsinniger Gewalt. Die Hemmungen in Bezug auf den Wert des menschlichen Lebens werden erschreckend rasch überwunden, und zum Schluß wird man schon dafür erschossen, daß man zuviel quatscht. Ein einzelner Mensch zählt nichts in dieser Welt, ohne Probleme, ohne Reue und auch ohne Folgen kann fast jeder jeden jederzeit totmachen, denn Waffen gibt’s mehr als genug, und die Autoritäten, die solche Zustände eigentlich verhindern sollten, ermöglichen sie sogar erst, indem sie die Ghettos bauen und dann Waffen hineinpumpen. Das Bild von Brasilien ist wahrlich vernichtend, es ist gnadenlos und krass, bitter und randvoll mit zynischem Humor. So ist die Welt halt, so ist sie geworden und so wird sie bleiben, weil es nichts und niemanden gibt, der den fatalen Kreislauf unterbrechen könnte und wollte. Es stecken zu viele Interessen dahinter – die Drogenbosse wollen ihre Macht behalten, andere aufstrebende Gangster wollen sie haben, Dritte wollen den nächsten Tag noch erleben und die Waffenhändler und die, die die Schickeria an der Copacabana mit weißem Schnee versorgen, wollen kassieren. Zwischen den Fronten stehen Familien, Mütter, Frauen, Alte, die nicht mehr gelten als die Holzbaracken in denen sie teilweise hausen müssen – wer eine Kugel abkriegt, hat halt Pech gehabt, ein Toter mehr oder weniger spielt nun wirklich keine Rolle mehr. Das Blut fließt buchstäblich im Rinnstein, die Leichen stapeln sich wortwörtlich auf den Straßen, doch solange man im Fernsehen aufrichtig empörte Berichte über die skandalösen Zustände in den asozialen Vorstadtvierteln sehen kann, ist für den Normalbürger alles in Ordnung, wenn all dies nur weit genug entfernt bleibt. Und dafür sorgen die Bewohner der Stadt Gottes schon selbst – niemand verläßt das Viertel, schon gar nicht lebend.

 

   Als Zuschauer weiß man gar nicht so recht, wie man nun empfinden soll angesichts dieser furchtbaren Schicksale. Soll man die einzelnen Menschen nur als Opfer ihres Milieus betrachten oder als gewissenlose, kaltblütige Mörder und Drogendealer, die selbst die eigene Familie verkaufen würden? Soll man heulend oder grimmig wütend aus dem Kino kommen, tief schockiert und betroffen oder doch lieber abgestoßen und brüskiert. Alles von allem irgendwie, denn der Film schickt einen auf wahrlich virtuose Weise durch ein irres Wechselbad der Emotionen, er gibt keinen Moment Ruhe, läßt einen nie aus dem Griff, reißt einen weiter im Mahlstrom der Ereignisse, er ist zugleich rasant unterhaltend und markerschütternd, in jeder Hinsicht ein Meisterwerk des südamerikanischen Kinos und noch ein bißchen extremer als der ebenfalls schon brillante „Amores perros“ aus Mexiko City. Jeder weitere Film, der uns immer noch nette brasilianische Folklore unterjubeln will, ist von nun an der Lächerlichkeit preisgegeben, und das ist richtig so. (8.5.)