Les invasions barbares (Die Invasion der Barbaren) von Danys Arcand, Kanada/Frankreich. 2003. Rémy Girard, Stéphane Rousseau, Marie-Josée Croze, Marina Hands, Dorothée Berryman, Johanna Marie Tremblay, Louise Portal, Pieerre Curzi, Dominique Michel, Yves Jacques, Daniel Brière

   Vor ca. siebzehn Jahren ging das amerikanische Imperium unter, und eine Handvoll kanadischer Intellektueller hatte derweil nichts anderes zu tun, als eben darüber zu lästern und sich ansonsten mit den eigenen, vorwiegend libidinösen Problemen zu beschäftigen. Dies war ein fabelhaftes Stück bissiger, persönlicher, ehrlicher und extrem unterhaltsamer Gruppentherapie, bis heute einer der schönsten kanadischen Filme, seit die so etwas wie eine Eigenständigkeit vorweisen können, sprich sich aus dem fahlen Schatten des „großen Bruders“ von nebenan freigestrampelt haben. Nun ist sie über die westliche Zivilisation gekommen, die Invasion der Barbaren, präzise am 11.9.01 natürlich, als es erstmalig wieder einem Übergriff fremder Kräfte auf das geheiligte Territorium der USA gab. Und die Kanadier? Schicken einen Historiker vor, der cool und locker vorrechnet, daß einst bei Ghettysburgh innerhalb kürzester Zeit sage und schreibe 50.000 Menschen starben, man also angesichts der dreitausend Toten vom Ground Zero lediglich von einer relativen und schon gar nicht von einer beispiellosen Katastrophe sprechen könne. So sieht bei Denys Arcand noch immer das Verhältnis der beiden Nachbarn zueinander aus: Wenn Papas und Sohn aus Kanadas an der US-Grenze von dem weiblichen Grenzposten feierlich mit „Hello guys, welcome to the United States“ begrüßt werden, lautet ihre ironische Replik instinktiv „Praise the Lord, hallujah!“. Eine der vielen knappen Szenen in diesem Film, die schon für sich genommen alles über einen viel komplexeren Zusammenhang aussagen.

   Arcand hat das Personal von einst wieder versammelt, diesmal nicht für einen Saunagang und ein Abendessen, sondern aus sehr traurigem Anlaß: Rémy, einer aus ihrer Mitte, wird bald an Krebs sterben, und so kommen sie aus London, Rom und anderswo in Kanada, um noch einmal zusammen zu sein, sich zu erinnern, ein bißchen zu flachsen und auch zu trauern, jeder auf seine Weise und trotz allem, was geschehen ist. Die Ehefrau zum Beispiel hat ihm die zahllosen Seitensprünge und eine im Grunde desaströse Ehe zu verzeihen, doch schließlich macht sie ihren Frieden damit. Der Sohn zum Beispiel braucht seine Zeit, um sich dem lang entfremdeten Vater zu nähern, doch dann engagiert er sich selbstlos und mit größtem finanziellen Einsatz, um dem alten Herrn einen menschenwürdigen Abgang zu verschaffen – eine Überdosis Heroin befördert ihn im Kreis der Liebsten sanft ins Jenseits. Jeder der Freunde bringt ein Stück seines eigenen Lebens und Alltags mit ein, und so gerät das Treffen fast erwartungsgemäß zu einer Bilanz der letzten anderthalb Jahrzehnte und dessen, was vom einstigen Leben geblieben ist. Der eine ist in seiner Familie abgesackt, nicht gerade euphorisch glücklich, aber auch außerstande, sich seiner zickigen jungen Frau zu entziehen. Der andere frönt in Italien dem dolce vita an der Seite seines Freundes, auf kosten der kanadischen Steuerzahler in einer jener Kulturbeamtennischen, für die man so dankbar ist, wenn man sie erwischt hat. Die beiden Frauen, die den Kreis komplettieren, haben sich mit ihrem Alter eingerichtet, allerdings höchst unterschiedlich: Während die eine den einst so üppig ausgelebten sexuellen Genüssen bereits abgeschworen hat, zeigt sich die andere durchaus noch interessiert und aktiv. Dies ist Arcands Generation und ihr gilt seine Liebe, seine Sympathie, sein Verständnis, aber auch sein gnadenlos satirischer, kritischer, ironischer Blick. Diesen Intellektuellen mit ihrem Hedonismus, ihrem Egoismus, ihrem Marxismus-Feminismus-Strukturalismus-Konstruktuivismus und sonstigen –ismen, ihren Eitelkeiten, Lügen, ihren ständigen Versuchen, sich in einer zunehmend feindlichen und oberflächlichen Welt einen kleinen Platz zu reservieren, wo der Geist noch zum Zuge kommt und nicht der gnadenlose Materialismus der neuen Generation herrscht. Auch diese neue Generation kommt hier vor in höchst widersprüchlichen und komplexen Beziehungen zu den Alten: Man wirft sich das verpfuschte Leben und die verpfuschte Kindheit vor, löst sich von den elterlichen Scheinheiligkeiten und Verlogenheiten, erkennt und fühlt aber gleichzeitig die starken Bande, die sie dennoch aneinander halten, man besorgt dem Vater Heroin gegen die Schmerzen, benutzt die beginnende Sucht das Altern um selbst davon herunterzukommen und so weiter. Der Film läßt sich eigentlich in seiner Fülle kaum wiedergeben, denn wenn man ihm überhaupt etwas vorwerfen könnte, ist es die Tatsache, daß Arcand in gerade mal hundert Minuten Material und Denkanstöße für mindestens drei oder vier Filme untergebracht hat. Dies allerdings auf eine umwerfende Art und Weise – leicht und zugleich schwer, komisch und zugleich tief ernst, heiter-ironisch und zugleich bitter und ehrlich. Man wird ständig mit Eindrücken, Bildern und neuen Gedanken bestürmt, aber eben nie so, daß man sich überfordert oder zugeschüttet fühlt, weil die Geschichten sehr nahe am Leben sind, weil Arcand so viel spürbare Liebe für seine Personen einbringt, und weil die Mischung aus witzigen, frechen, zärtlichen und traurigen Augenblicken vollendet gelungen ist. Wie schon in dem früheren Film neigt sich gegen Ende die Waage deutlich in Richtung ernster, stiller Momente, aber gerade in der ersten Hälfte quillt der Film über vor komischen und auch sehr satirischen Szenen, in der alle ihr Fett abkriegen – von den Gewerkschaften über das kanadische Gesundheitssystem bis hin zur Menschheitsgeschichte an sich, so wie Rémy sie sieht.

 

   So ein Film ist keine leichte Sache. Er muß überzeugend gespielt und vor allem geschrieben und inszeniert sein, sonst fällt er auseinander, wird chaotisch und langweilig. Er ist nichts von alledem, er ist brillant und einer der menschlich bewegendsten Filme des Jahres, weil alles an ihm stimmt, die Schauspieler ebenso wie der Autor/Regisseur. Fast könnte man meinen, Arcand habe damit so etwas wie in persönliches Vermächtnis schaffen wollen. Wenn dem tatsächlich so sein sollte, könnte ich mir absolut kein besseres und schöneres vorstellen. (27.11.)