The mother (Die Mutter) von Roger Michell. England, 2003. Anne Reid, Daniel Craig, Cathryn Bradshaw, Steven Mackintosh, Anna Wilson-Jones, Peter Vaughan
Die beiden alten Herrschaften kommen aus der ruhigen Kleinstadt nach London, um dort nach langer Zeit ihre zwei Kinder zu besuchen. Sie leben zunächst bei Sohn und Schwiegertochter, doch eines Nachts erleidet der alte Herr einen tödlichen Infarkt, und die alte Dame steht vor der Frage, wo sie nun leben soll. Nach Hause möchte sie nicht zurück, doch beim Herrn Sohn scheint sie auch eher unwillkommen zu sein. Also zieht sie rüber zur Tochter, die einen Freund hat, sich seiner aber nicht ganz sicher ist und überhaupt einen eher unruhigen, unzufriedenen Eindruck macht. Alte und neue Konflikte kommen hoch, und als sich die Mutter schließlich auf eine Affäre mit dem Freund ihrer Tochter einläßt, kommt es zum Knall, an dessen Ende die Mutter zwar ein blaues Auge davonträgt, aber von einer wirklichen Bereinigung der Schwierigkeiten keine Rede sein kann.
Hier werden wir aufs Allerschönste daran erinnert, wie gut eigentlich Hanif Kureishis Drehbücher immer schon waren, ob für Stephen Frears oder für den in Eigenregie entstandenen „London kills me“. Stets werden auf brillante Weise komplexe und vielschichtige Einzel- und Gruppenporträts vermischt und mit viel Biß und Ironie konterkariert von Betrachtungen über Gesellschaft, Sexualität, Tabus und dergleichen. Mal geht es um Schwule, dann um gemischtrassige Beziehungen, dann wieder um scheinbar ziellose Junkies. Nun kommt also noch Sexualität im Alter ins Spiel, und man ist allzu sehr versucht, den Film auf die Story einer alten Dame zu reduzieren, die nach dem Tod ihres Mannes sich von alten Hemmungen und Konventionen befreit – endlich – und den Spaß am Leben und am Sex wieder für sich entdeckt. Das wäre aber Unsinn weil viel zu kurz gegriffen, denn dies ist nur ein Handlungsstrang und es geht tatsächlich um viel mehr. Es geht um Eltern und Kinder, die keine Zeit und keinen Platz mehr für die Alten haben, um ehrgeizige Emporkömmlinge, die sich verzweifelt und hektisch abstrampeln, um oben zu bleiben, oder um frustrierte Alleinerziehende, die ständig um ein wenig Struktur in ihrem Leben ringen. Es geht auch besonders intensiv um eine Mutter-Tochter-Kiste, denn die eigentlich sehr ruhige und bescheiden wirkende Mutter wird von ihrer Tochter unerwartet mit heftigen Vorwürfen konfrontiert, und man darf annehmen, daß diese nicht gänzlich aus der Luft gegriffen sind. Es geht also auch um Lebensentwürfe und darum, was Erziehung aus einem machen, wie sie die Leute unterschiedlich prägen, beeinflussen, prädestinieren kann. Die Mutter muß erkennen, daß sie ihrer Tochter womöglich einen ungünstigen Start ins Leben verschafft hat und akzeptiert schlußendlich den wütenden Fausthieb, mit dem sich die Tochter ihre lang aufgestauten Gefühle von der Seele haut. Aber natürlich geht es auch um Sexualität, und wie immer überrascht uns Kureishi mit seiner unverblümten, unkonventionellen, provokativen Sichtweise. Klar hat eine Frau auch mit über sechzig noch Lust, hat Sehnsüchte und Fantasien, hat auch dasselbe Recht darauf wie die jungen Leute. Schade nur, daß sie sich gleich wieder in eine neue Abhängigkeit begibt, denn aus Liebe zu dem jungen Mann wirft sie ihre Urteilsfähigkeit über Bord, erkennt nicht, daß er niemals bereit wäre, sich mit ihr auf eine feste Beziehung einzulassen, daß er sie vielmehr nur als ein amüsantes, ganz neuartiges Abenteuer betrachtet. Nicht daß er deswegen jetzt ein übler Kerl wäre – Kureishi und Michell, der sehr locker und dynamisch Regie führt, sind nicht an Schuldzuweisungen oder Verurteilungen interessiert. Jeder hier hat seine Schwächen, Fehler, Komplexe, die Mitmenschen werden ausgenutzt, verletzt, vor den Kopf gestoßen, mißverstanden und so weiter, und nichts wirkt dabei jemals zu ernst, zu statisch, zu angestrengt. Der Film ist wunderbar ausbalanciert in seinen großartigen Darstellungen (vor allem Anne Reid als die Mutter ist toll) und in seiner wie immer äußerst gekonnten Mischung aus Humor, Scharfzüngigkeit und feinfühligen Charakterporträts. Man fühlt sich in der Tat stark an Frears’ gute alte Frühwerke aus den mittleren Achtzigern erinnert, und dies ist ja wohl nicht die schlechteste Referenz und zeigt auch, daß die Brits diese Tradition durchaus auch fünfzehn, zwanzig Jahre später noch weiterführen könnten. Was wahrlich zu hoffen wäre. (23.10.)