Dogville (#) von Lars von Trier. Dänemark/Schweden/Frankreich/BRD, 2003. Nicole Kidman, Paul Bettany, James Caan, Blair Brown, Stellan Skarsgård, Chloe Sevigny, Patricia Clarkson, Lauren Bacall, Harriet Andersson, Jeremy Davies, Ben Gazzarra, Philip Baker Hall, Soibhan Fallon Hogan, Jean-Marc Barr

   Vor Jahren schon nahm Emily Watson in „Breaking the waves“ aus Liebe zu einem Mann ein schlimmes Martyrium auf sich, welches schließlich erst mit ihrer sozialen Ächtung im finsteren Schottland, dann mit ihrem Tode endete. Später dann erlitt Björk in „Dancer in the dark“ aus Liebe zu ihrem Kind ein ähnliches Schicksal, das auch sie in den Tod führte, damals verurteilt von einer hartherzigen bigotten amerikanischen Gesellschaft. Und auch in „Dogville“ nun schickt sich Lars von Trier an, eine Frau drei Stunden lang die reine Hölle erdulden zu lassen, so daß man schon zu der Schlußfolgerung verleitet werden könnte, von Trier weide sich gern und ausgiebigst am Anblick hingebungsvoll leidender Frauen, aber doch gibt es dieses Mal einen ganz entscheidenden Unterschied: Diese Frau hier schlägt zurück – und wie. Nachdem Grace endlos lang von den Bewohnern des Rocky-Mountains-Kaffs Dogville geschunden, erniedrigt, gedemütigt und vergewaltigt wurde, ist es ihr am Schluß erlaubt, Rache zu üben. Ihr Papi, ein mondäner Gangster mit vielen schwer bewaffneten Untergebenen, findet das Töchterlein in der Provinz und überläßt ihr schließlich die Entscheidung, was mit Dogville und seinen hinterwäldlerischen, verlogenen, dummen, gemeingefährlichen, einfältigen Bewohnern zu geschehen habe. Grace erwägt zunächst, wie immer wieder zuvor, Milde und Gnade walten zu lassen, doch dann sieht sie ein, daß die Welt ohne Dogville ein gutes Stück besser aussähe, und so werden alle Menschen hier niedergemacht, die Häuser abgebrannt, und zu guter Letzt tötet Grace den jungen Mann, der immer behauptet hatte, sie zu lieben, mit eigener Hand und bemerkt dazu, daß man manche Dinge einfach selbst tun müsse.

   Ein drastische Schluß für einen sowieso drastischen Film, all dies kommentiert mit sarkastischer Distanz von einem Erzähler, der uns die Geschichte als eine Art Versuchsanordnung in Sachen menschlicher Verhaltensweisen präsentiert. In sparsamsten, höchstens mal aufgemalten Studiokulissen, die an Thornton Wilders Bühnenklassiker „Unsere kleine Stadt“ erinnern (sogar der Dorfhund ist nur als Kreidesilhouette auf dem Bretterboden zu sehen) und mit zahlreiche Brechtschen Verfremdungseffekten läßt von Trier seine armselige 30er-Jahre-Gesellschaft mit spöttisch-grausamer Objektivität alle denkbaren Stadien des Zusammenlebens durchlaufen, Zunächst das ländlich-abgeschiedene Idyll, das durch die Ankunft die spröden, schönen Fremden gestört wird. Dann die natürlich menschliche Hilfsbereitschaft und Barmherzigkeit, die die Menschen in Dogville dazu bewegt, der Hilfesuchenden Unterkunft und Nahrung zu gewähren. Dann erste Mißtöne, als die Dörfler plötzlich anfange, Grace für ihre vermeintliche Fürsorge schuften zu lassen. Dies steigert sich hin bis zum ersten Übergriff durch einen der Männer und endet darin, daß Grace tagtäglich von allen männlichen Dorfbewohnern mißbraucht wird bis auf den einen, einen philosophischen Feingeist, der Grace in tiefer Liebe zugetan ist und fortwährend einen Fluchtplan ersinnen möchte, aber in Wahrheit so schwach und egozentrisch und verlogen ist, daß er Grace fast noch übler demütigt als die groben Vergewaltiger. Grace ihrerseits übt sich in schier unmenschlichem Stoizismus, beantwort jeden Schlag mit demütiger Vergebung und Milde, wiegt sich in Trauer, kämpft jedoch darum, keine Tränen vergießen zu müssen. Sie ist das Opfer einer monströsen Gemeinschaft, sie sich religiös, ur-amerikanisch, frei, tolerant und vor allem nächstenliebend gibt, und in allem das präzise Gegenteil davon ist. Graces abschließende Folgerung, daß die Welt auf einen Ort wie Dogville bestens verzichten kann, ist absolut korrekt, nur verkehrt ihre drastische Revanche die Dinge dann schon wieder ins Gegenteil, und von Trier jongliert hier virtuos mit unseren Emotionen, die zunächst vollkommen auf Graces Seite liegen, sich dann aber am Ende notwendigerweise von ihr abwenden müssen.

 

   Es gibt also keine klaren Linie, keine einfachen Schuldzuweisungen, keine bequeme Identifikation, es gibt menschliches Unrecht auf beiden Seiten, so wie immer, es gibt keine Seite, die keine Schuld auf sich geladen hätte. Indem von Trier diese Ballade mit so radikal verknappten Mitteln erzählt, ihr praktisch nur das Skelett läßt, zwingt er auch uns, von allem unnötigen Ballast abzusehen und uns auf die Strukturen und Mechanismen zu konzentrieren, die Essenz der Geschichte zu sehen und nicht ihre dramaturgischen Ausschmückungen. Er führt weniger Charaktere vor, als viel mehr Typen, die in dem Planspiel ihre Funktion erfüllen, und er hat eben zusätzlich noch den Erzähler, der mit beißend gedrechselter Sprache das unerhörte Geschehen begleitet und uns endgültig davon abhält, auf herkömmliche Art und Weise mitzugehen, mitzufühlen. Insofern ist dies sicherlich ein kalter, harter, schroffer Film, allerdings ganz und gar kein anti-amerikanischer Film, wie einige Schwachköpfe behaupten, die nicht begreifen, daß von Trier viel universaler argumentiert und die Gültigkeit der Geschichte nicht nur auf die USA beschränken würde. Es ist ein großartig konsequent und ganz eigenwillig gestalteter Film, mit Leben erfüllt von einem ebenso großartigen Darstellerteam, aus dem Nicole Kidman zweifellos herausragt mit einer Präsenz und Ausstrahlung, die wahrlich beachtlich ist und die sehr eindrucksvoll untermauert, zu was viele SchauspielerInnen fähig sein können, wenn sie nur einmal wirklich gefordert werden. Von Trier hat sie, so wird kolportiert, bis an den Rand der Erschöpfung gebracht, aber das Resultat ist ohne Frage eine außerordentliche schauspielerische Leistung, an die man sich erinnern wird. Und wie man zu dem Film ansonsten steht, hängt von jedem selbst ab. Ich finde ihn schon bewundernswert, wie er so radikal mit großen Begriffen wie Liebe, Rache, Vergebung, Gewalt umgeht, provokativ in seiner Unerbittlichkeit, aber aufgrund seines vermeintlichen Mangels an Gefühl (was aber meiner Absicht nach auch ganz und gar nicht zutrifft) nicht jedermanns Sache. Ungewöhnliches, großes Kino in jedem Fall und der neuerliche Beweis, daß sich schwierige Egomanie manchmal auch auszahlen kann. (5.11.)