Gangs of New York (#) von Martin Scorsese. USA, 2002. Leonardo di Caprio, Daniel Day-Lewis, Cameron Diaz, Jim Broadbent, Brendan Gleeson, John C.Reilly, Henry Thomas, Liam Neeson
Was hat der Scorsese eigentlich so in den letzten zwanzig Jahren plus fabriziert? Einen Boxerfilm, einen Billiardfilm, einen Stadtneurotikerfilm, einen Kurzfilm, einen Jesusfilm, einen Literaturfilm, einen Mafiafilm, einen Tibetfilm, noch einen Mafiafilm, einen Ambulanzfilm. Auch einen guten Film? Ich meine, so einen richtig guten Film, der Scorseses Ruf als einer der nach wie vor besten, aufregendsten, interessantesten, kontroversesten und sonst noch was Regisseure Amerikas irgendwie rechtfertigt? Stimmt ja, da ist auch „Meine italienische Reise“ über den italienischen Film, mit Abstand der beste und sympathischste des gesamten Haufens, wie ich finde. Aber sonst? Mal waren die Themen interessant, die Umsetzung aber zu eitel und überdreht, mal war die Machart brillant, die Inhalte aber doof, mal war weder das eine noch das andere toll, und manchmal dachte man auch, ja, wirklich ganz gut, könnte aber noch besser sein. Mit anderen Worten – seine letzten wirklich herausragenden Werke (von dem Dokumentarfilm jetzt mal abgesehen) hat der Mann irgendwann in den Siebzigern gemacht, und das ist recht lang her.
„Gangs of New York“, fürchte ich, wird an diesem Sachverhalt wenig ändern. Wieder ein Film von überschäumendem Temperament, von unbestreitbar großartigem gestalterischen und technischen Können, und aus jedem Bild spricht der Ehrgeiz seines Machers, der unbändige Wille, das ganz große, leidenschaftliche, unvergeßliche amerikanische Epos zu erschaffen. Zweidreiviertel Stunden haben ihm die Produzenten noch gelassen, viel länger noch hätte der Film sein sollen, und wie das dann ausgesehen hätte, bleibt spekulativ, wie immer müssen wir Konsumenten uns an das halten, was wir zu Gesicht bekommen, und das ist ein Film, der eigentlich zwei Geschichten erzählt und die beiden nicht so recht zusammen kriegt.
Die eine Geschichte ist banal, wenig originell und in ihren Grundzügen sofort vorhersehbar – eine Rachegeschichte mit einer Liebesgeschichte als Dreingabe. Ein kleiner Junge erlebt anno 1846, wie sein geliebter Vater bei einem fürchterlichen Bandenkampf von seinem finsteren Kontrahenten abgeschlachtet wird. Sechzehn Jahre später ist er zurück im Viertel Five Points/Manhattan, um diesen Tod zu rächen, und man weiß schon, daß es ihm, wenn auch nach langer, entbehrungsreicher Zeit, letztlich gelingen wird, ebenso wie er das Mädchen kriegen wird, eine süße Straßendiebin aus dem Dunstkreis seines mächtigen Gegners. Dies ist eindeutig keine Story, wegen der ich auch nur einen müden Euro für’s Kino locker machen würde.
Die andere Geschichte ist schon wesentlich interessanter und sehr raumgreifend. Es geht um eine Sozialgeschichte von unten, um die Immigrantengeschichte der Stadt New York aus irischer Sicht, wenn man so will. In den Vierzigern des 19. Jahrhunderts kamen sie zu Zigtausenden ins Land, vertrieben von der mörderischen Hungersnot im eigenen Land, gelockt von den Versprechungen und Verheißungen der neuen, freien Welt. Was sie vorfanden, war noch mehr Armut, Diskriminierung, offene Anfeindung und das Los, sich in stickigen Ghettos einnisten zu müssen und fortan den unterschiedlichen Gangs ausgeliefert zu sein. In den Augen der etablierten Einheimischen, der sogenannten „Natives“, standen die Iren zu der Zeit fast noch unter den Schwarzen und wurden mit Verachtung und Brutalität behandelt. Sechzehn Jahre später hat sich das Bild nur zur Hälfte gewandelt – die einen sind nun auf die Seite der Macht übergetreten, als Polizisten, Politiker oder wohlhabende Kriminelle. Der Großteil haust weiter im Dreck und wird unterdrückt, doch hat man nun einen neuen, gemeinsamen Gegner ausgemacht – Abraham Lincoln, der die Sklaverei abschaffen möchte und für den Tausende junger New Yorker da unten im Süden krepieren müssen. Die noch immer massenhaft strömenden irischen Einwanderer werden gleich vom Fleck weg in eine Uniform gekleidet und als Feuerholz an die Front im Süden geschickt, kaum daß sie überhaupt amerikanischen Boden betreten haben, während ein Schiff weiter reihenweise frisch gefüllte Särge anlanden mit Söhnen irischer Mütter, die gleich die Ehre hatten, für ihre neue Heimat ihr Leben hingeben zu dürfen. (Eine starke Sequenz, so lakonisch, bissig und prägnant wie kaum eine andere in dem sonst eher weitschweifig erzählten Werk.) Auch der Rassenhaß flammt wieder richtig auf – die Nigger sind es weiß Gott nicht wert, daß so viele Weiße für ihre Freiheit sterben. Es kommt zu regelrechten Volksaufständen gegen die Zwangseinberufung, und auf dem Höhepunkt des Aufstandes schreitet das Militär ein und knüppelt das Volk rücksichtslos nieder, gerade als in Five Points die entscheidende Schlacht zwischen den beiden Gangs geschlagen wird. Das war 1863.
Einiges an dieser Geschichte ist sicherlich stark und beeindruckend, nur begräbt sie die andere vollkommen unter sich. In der zweiten Hälfte des Films gehen uns die zum Teil ohnedies eher blassen Protagonisten weitgehend verloren, die tauchen einfach ab im pompösen Getümmel, nachdem sich im ersten Teil wenigstens ein ganz spannendes Drama abgezeichnet hatte. Scorsese gerät hier als Dramatiker aus der Balance und man merkt jetzt so richtig, daß er seinem Vorsatz, eine private Geschichte vor einer öffentlichen zu erzählen, nicht gerecht geworden ist. Dieser Kunstgriff ist ja wahrlich nichts neues – fast alle Filme, die uns Geschichte auf die eine oder andere Weise vermitteln wollen, tun dies, indem sie vor historischem Hintergrund irgendeine Romanze oder ähnliches auftischen, nur muß man in solchen Fällen die Proportionen gut im Blick haben. Scorseses Eifer, der in der letzten halben Stunde ganz deutlich zutage tritt, macht dieses Unterfangen zunichte. Es soll um einen kritischen Blick auf die Wurzeln der amerikanischen Nation gehen. Wo liegen ihre Wurzeln – im Dreck und Sumpf New Yorks? In den Armenvierteln, den Slums, wo korrupte Politiker, brutale Cops oder tyrannische Bandenbosse das Sagen hatten? Wurde diese Nation auf dem Rücken der Armen, Geknechteten, Entrechteten errichtet? Entstand sie aus Rassenhaß, sozialem Unrecht und immer wieder aus Gewalt? Es gibt keine klare Konzeption zu diesem Thema und natürlich auch keine Antworten auf all die Fragen, nicht weil Scorsese sie uns wissentlich verweigern würde, sondern einfach weil er selbst gar keine hat, und weil es in dieser Form auch keine geben kann. Der Song von U 2 im Abspann teilt uns mit bewährtem Pathos mit, daß Amerika auf den Straßen geboren wurde. Na ja, eine solche Botschaft hätte auch von Bruce Springsteen stammen können, einem anderen Mythomanen, oder eben von Meister Scorsese, der weniger für seinen klaren Blick berühmt ist als für sein heißes, katholisches, von diversen Symbolen tief gezeichnetes Temperament. Davon sehen wir auch hier wieder eine Menge: Die Gewalt ist finster und exzessiv, religiöse Zeichen dürfen zur keiner Zeit fehlen, die Kamera von Herrn Ballhaus rast entfesselt durch kunstvoll errichtete Bauten, hetzt uns von Schauplatz zu Schauplatz, und natürlich ist all dies hoch professionell und handwerklich äußerst beeindruckend. Schauspieler gibt es dabei auch noch, und hier setzt sich das Zwiespältige, Inkonsequente, letztlich nicht Befriedigende an diesem Film logisch fort. Leonardo di Caprio hat für mich nicht mehr die Präsenz wie in seinen frühen Filmen, aber er hat es hier auch nicht leicht, nicht mit seiner schwachen, sehr eindimensional beschriebenen Rolle und nicht mit einem solchen Gegenspieler, denn Daniel Day-Lewis ist natürlich genial und absolut übermächtig, er gestaltet die Rolle des zerrissenen, patriotischen, die Katholiken abgründig verabscheuenden Mr.Cutting so bravourös, daß man sie auch dann noch nicht vergessen haben wird, wenn der Rest des Films schon abgehakt ist. Cameron Diaz ist für sowas einfach zu leichtgewichtig, sie ist süß und sexy, aber gehört in andere Filme. Auch ihre Rolle als geschickte Diebin, die dreist genug ist, sich in die Luxustempel der Upper Class einzuschleusen und dort ihre Raubzüge zu landen, hat wenig Bezug zur eigentlichen Geschichte und ist ganz offensichtlich nur für das erotische Element angelegt worden. Die Nebenrollen von Leuten wie Brendan Gleeson oder Jim Broadbent sind großartig gespielt und geben der ganzen Sache ein wenig mehr Dimension und Tiefe, keine Frage. Ein typischer Scorsese-Film eben - es gibt vieles, was an ihm auch objektiv gelungen ist, nur das Gesamtbild will sich irgendwie nicht fügen. So wartet man also weiter auf sein erstes Meisterwerk seit ewigen Zeiten. (24.2.)