Lampedusa (#) von Emanuele Crialese. Italien, 2002. Valeria Golino, Vincenzo Amato, Francesco Casisa, Veronica d’Agostino, Filippo Pucillo, Muzzi Lofredo, Elio Germano
Lampedusa ist ein Fischerdorf irgendwo im Süden Italiens (nahe Sizilien, wie ich las). Man lebt dort zwischen Klassik und Moderne – vom Fischfang wie seit jeher, mit halbwegs intakten sozialen Strukturen, sprich den alteingesessenen Rollenverteilungen, nur die Utensilien haben sich ein wenig dem Lauf der Zeit angepaßt. Ansonsten bleiben Männer und Frauen jeweils unter sich, jedes Geschlecht mit seinen Geschäften, seinen Gesprächen, seinen Ritualen. Eine Frau wie Grazia paßt hier schlecht hinein – unberechenbar, mal wild mal zärtlich, ständig die naturgegebenen Grenzen der Frau überschreitend und in die Männerwelt übergreifend und überhaupt für ihre drei Kinder keine gute Mutter, weil sie regelmäßig ganz wilde Anfälle kriegt und dann wild um sich schlägt und eine Spritze braucht. Von ihr, von ihrem Mann, dem guten Fischer Pietro und von den drei Kindern handelt dieser Film, der meine schlimmsten Erwartungen und Befürchtungen in Bezug auf typisch italienische Folklore dreist und verblüffend widerlegt hat, denn dies ist in meinen Augen ein ganz prächtiger und wunderbarer Film, der vielleicht ein wenig von dem Geist der alten neorealistischen Filme von anno dazumal mitgenommen, ihn aber gründlich überarbeitet und renoviert hat. Zum einen ist die Schilderung des Milieus fantastisch gelungen: Mit dem allerersten Bild schon hat man Italien in der Nase, auf der Haut, im ganzen Sinn, die Hitze, die Gerüche, das unglaublich gefärbte Meer, die karge, steinige Ödnis des Südens, die archaische Einfachheit des Lebens dort. Dazu das ewige Knattern der Vespa, das Tuckern der Fischerboote und das Geschrei der Bambini, die auf Müllhalden, in riesigen Ruinen, im Dorf selbst und auf den Klippen herumturnen und –toben, Spatzen meucheln und verspeisen, Fische aus dem Meer schnappen und sich gegenseitig, in Banden organisiert, das Leben schwer machen. Das Temperament ist natürlich auch sehr italienisch, nur hat es der Regisseur dankenswerterweise unterlassen, all die Klischees und Stereotypen nach bekannter Art zu feiern (man denke an die unsäglich Lollobrigida- oder Loren-Filme von früher), vielmehr betrachtet er die Menschen in ihrer Welkt mit ebensoviel Anteilnahme und Sympathie wie mit feiner Ironie und vor allem sehr viel Humor. Es gibt umwerfend lustige Szenen hier, die unversehens umschwenken können in tiefen Ernst und viel Gefühl, wenn es um Grazia geht. Eine unangepaßte Frau, die zur allgemeinen Empörung und zum Entsetzen ihrer eigenen Kinder nackt badet, ein wenig mit den Fischern flirtet, mit den Kindern herumtollt und für jeden Quatsch zu haben ist, sie dann aber auch mal Dosenfutter essen läßt und manchmal aus manischer Ausgelassenheit in jähe Depression fällt. In dieser übersichtlichen, von starken Regeln bestimmten Ordnung hat so jemand keinen Platz, und so soll die schließlich in eine Mailänder Klinik verschifft werden. Aus Wut darüber und über die Hilflosigkeit ihres Mannes versteckt sie sich, läßt mit Hilfe des ältesten Sohnes alle glauben, sie sei tot, und führt durch ihr Wiederauftauchen vielleicht doch eine Änderung der allgemeinen Sichtweise herbei.
Mit erstaunlicher Leichtigkeit und dabei doch völlig überzeugend pendelt der Film zwischen einem Psychogramm und einen Soziogramm, zwischen Intimität, Ernsthaftigkeit, Tiefgang und fast ausgelassenem Spaß und liebevollen Milieuschilderungen. Ich kenne sowas von den Italienern eigentlich gar nicht, denn entweder bleiben sie bei feierlichem, fast dokumentarischem Ernst oder sie verfallen in jene Flamboyanz und Selbstverliebtheit, die mich immer ziemlich genervt hat. Hier hat man alles – tolle Bilder, realistische Alltagsszenen, eine gefühlvolle Geschichte, wunderbare Typen (ebenso wunderbare Schauspieler auch) und alles so gemischt, daß alles stimmt und zusammenpaßt. Wo gibt es das sonst schon mal? (15.5.)