Agnes und seine Brüder von Oskar Roehler. BRD, 2004. Moritz Bleibtreu, Herbert Knaup, Martin Weiß, Katja Riemann, Tom Schilling, Vadim Glowna, Susan Anbeh, Margit Carstensen, Martin Semmelrogge, Marie Zielke, Oliver Korittke, Lee Daniels
Agnes und seine beiden älteren Brüder Hans-Jörg und Werner: Agnes ist transsexuell und hat die Umwandlung hinter sich. Hans-Jörg geht zur Gruppentherapie für Sexsüchtige, jagt verzweifelt schwitzend jedem Rock hinterher, kann aber bei keiner landen. Werner hat sich oberflächlich als erfolgreicher Geschäftsmann etabliert, doch die Gattin hat sich total entfremdet und der Sohn tanzt ihm höhnisch auf der Nase herum. Über allem der Papa: Ein grauhaariger Freak, der den jüngsten mißbraucht hat und auch Hans-Jörg mißbraucht hat, und nur Werner behauptet standhaft, nichts abbekommen zu haben. Für alle drei geht es unerbittlich bergab: Agnes wird von ihrem Freund rausgeworfen, trifft eine alte Liebe aus New York, den eigentlichen Grund für die Operation, doch dann kommen schlechte Blutwerte aus einer ärztlichen Untersuchung. Hans-Jörg wird an der Uni als Spanner auf dem Mädchenklo erwischt, verliert seinen Job, wird von einer Ex-Freundin gefoppt, erschießt schließlich den Vater und steigt als Pornodarsteller ein. Werners Frau will mitsamt Sohnemann endgültig ausziehen, doch dann wird dieser plötzlich vermiß und bliebt zwei Tage lang verschwunden. Und so geht’s aus: Hans-Jörg lernt beim Pornodreh Desiree kennen. Das ist endlich die Frau für ihn., und gemeinsam fahren sie gen Bagdad, um dort Gutes zu tun. Werner und seine Frau kommen durch das kurzzeitige Abtauchen ihres Sohnemanns wieder zusammen, und gemeinsam werden sie Sohnis Hanfzucht auf Vordermann bringen. Und Agnes wird sterben. Kurz vor seinem Tod sieht er sich noch einmal als kleinen Jungen, glücklich in der Sonne durch hohes Gras laufen.
Es ist eine besondere Kunst, solch einen Film zu machen, und ihn auch noch gut zu machen. Ein Melodrama, rücksichtslos überdreht und hemmungslos emotional. Mit unendlich viel Liebe zu den Figuren, diesen grotesken Clowns und Losern, diesen geschlagenen Typen auf der Suche nach Liebe und Zuneigung, diesen verschwitzten Spannern, und schmierigen Fußbodenscheißern und naiven Transen. Manchmal stoßen sie uns regelrecht ab, manchmal möchten wir vor schierem Mitgefühl zerfließen. Manchmal kann man Tränen lachen, und dann wieder sitzt ein dicker Kloß im Hals, immer geht das hin und her, rauf und runter. Es geht hier nicht um Realismus, um Milieu, um eine ernsthaft konstruierte, psychologisch irgendwie ausbalancierte Familienkiste, es geht um reine Gefühle, um Sehnsucht, um Verzweiflung, um Wut, um unglaublichen Frust (all die knackigen Mädels in der Uni zum Beispiel, die den armen Hans-Jörg wie im Schlaraffenland umgeben) und letztlich um Hoffnung. Oskar Roehler hat sich zwischen zwei großen Traditionen bewegt, der Tradition Fassbinders und der Almodóvars, aber zum Glück kommt er dem Spanier sehr viel näher, denn dieser Film hat nichts von Fassbinders stilisierter Künstlichkeit und tranceartiger, verfremdeter Langsamkeit (Margit Carstensen ist das Brückenglied zwischen den beiden), er ist enorm dynamisch, vital, unterhaltsam, genau wie Almodóvar durchaus mit Hang zum Schrillen, aber unter der lauten Oberfläche kommt etwas anderes zum Vorschein, nämlich im Grunde eine tiefempfundene Ernsthaftigkeit und Menschlichkeit. Roehler profitiert in der Realisierung seines riskanten Konzepts ganz entscheidend von seinen Schauspielern, die vielfach so gut sind wie noch nie zuvor, und die genau das tun, worauf es ankommt, nämlich ernsthaft spielen, ihre Würde wahren, sich nicht als Freaks bloßstellen, keine grellen Karikaturen abliefern, sondern in der Rolle bleiben, den Absichten des Regisseurs folgen. Das ist umso erstaunlicher, da es sich ja um viele mittlerweile sehr arrivierte und prominente Leute handelt, die das ganze Ding locker zum Einsturz hätten bringen können. Das ist aber nicht passiert, und so hat man hier einen ebenso ungewöhnlichen wie eigenwilligen und effektvollen deutschen Film, ein Melodrama, das wundersamerweise funktioniert, ein Film, der rührt und bewegt, der amüsiert und traurig macht, jedenfalls ein Film, der einen wohl kaum kalt lassen kann. Auch das rückt ihn viel näher an Almodóvar heran, der ja in jedem Fall immer Reaktionen provoziert, ob nun positive oder negative sei dahingestellt. Bei mir hat Roehlers neuer Film jedenfalls sehr viel positive Reaktionen hervorgerufen, und ich fände es schön, wenn dieser Typ endlich mal eine Art künstlerischer Balance erreicht, denn seine bisherigen Filme waren aufs Ganze gesehen ja doch ziemlich unausgeglichen. (16.11.)